piwik no script img

Erkenntnis und Geschlecht: Worauf richtet sich der Focus feministischer Wissenschaft?/Sind auch für die Naturwissenschaften feministische Ansätze denkbar?/Wir diskutierten diese Fragen mit Berliner Studentinnen und Professorinnen

In Berlin forderten die streikenden Studentinnen die Verankerung feministischer Forschung und Lehre an allen Fachbereichen. Uns interessierte, was dies insbesondere für die naturwissenschaftlichen und technischen Fachbereiche bedeuten könnte. Zu dem Gespräch über die Inhalte feministischer Wissenschaft kamen vier Studentinnen der Technischen Universität:

Lara, 3. Semester Energie- und Verfahrenstechnik, Claudia, 5. Semenster Landschaftsplanung, Elke, 7. Semester Psychologie, und Susanne, 8. Semester Sozialpädagogik.

Die Professorinnen Barbara Schaeffer-Hegel und Regine Reichwein - beide Fachbereich Erziehungs- und Unterrichtswissenschaft der TU Berlin - beschäftigen sich mit feministischer Wissenschaftskritik, Regine Reichwein mit Schwerpunkt Naturwissenschaften. Ulla Bock ist Expertin für die Institutionalisierung feministischer Wissenschaft. Sie arbeitet an der Zentraleinrichtung Frauenforschung der Freien Universität Berlin.

taz: Ihr Studentinnen fordert in Eurem Streik die Verankerung feministischer Forschung und Lehre an allen Fachbereichen. Für die sozialwissenschaftlichen Fächer kann man sich das noch ganz gut vorstellen - da sind ja auch schon eine ganze Menge Vorarbeiten geleistet. Aber in den Naturwissenschaften? Du, Lara, studierst am Fachbereich Energie- und Verfahrenstechnik. Wie wird das bei Euch diskutiert?

Lara: Wenn ich ehrlich bin, wird das im Grunde gar nicht beziehungsweise nur sehr lau diskutiert. In meiner Technikerinnengruppe, wo der Raum wäre, sich darüber zu unterhalten, sind wir zu dem Thema noch gar nicht vorgedrungen. Es besteht unter Frauen und Männern ein völliges Informationsloch, die wissen überhaupt nicht, was sie sich darunter vorzustellen haben.

Die Frage nach den Forschungsinhalten war uns selbst in unserer Frauengruppe einfach zuviel. Wir hatten im Fachbereich schon endlose Diskussionen über Frauentutorien. Ich nehme an, es liegt daran, daß es so wenige Frauen bei uns gibt.

Elke: In den geisteswissenschaftlichen Fächern haben wir noch eine Studienordnung, die es zuläßt, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. In den Naturwissenschaften ist einfach keine Zeit da, um ein kritisches Verhältnis zur Lehre zu entwickeln, und es ist schon gar keine Zeit, sich mit feministischer Literatur zu beschäftigen.

Ulla Bock: In den Naturwissenschaften ist es schwerer zu begründen, was feministische Wissenschaft in der Physik, in der Chemie oder in der Biologie ist. Dort sind auch die Widerstände von seiten der Männer sehr viel härter als in den Sozialwissenschaften. Da braucht man nicht nur eine Kämpfernatur, sondern auch sehr viele Informationen, um kontern zu können: Um auf die Gentechnologie oder Chemie einen feministischen Blick zu werfen, braucht frau im Grunde eine Zusatzqualifikation. Es ist auf jeden Fall zusätzliche Arbeit. Ganz abgesehen davon, daß die Verkehrsformen in den Naturwissenschaften die Männer begünstigen, weil sie sich dort wohler fühlen.

Lara: Da muß ich jetzt anknüpfen. Wir hatten in der zweiten Streikwoche eine Vollversammlung, auf der die verschiedenen Arbeitsgruppen vorgestellt wurden. Ein Mann geht nach vorne

-es sollte wohl eine gemischte Gruppe sein -, er stellt einen Forderungskatalog vor, darunter die Forderung nach Quotierung. Seine Begründung dafür: Er möchte damit die Professoren konfrontieren und sehen, wie die reagieren. Gut. Die Masse der Studenten hört sich das an, schweigt, es kommt keine Reaktion. Und dann ist ihm eine gute Begründung eingefallen, und daraufhin hat der Saal gerast: Wir wollen doch alle, daß Frauen sich bei uns wohlfühlen. Und was passiert? Jubel und Klatschen und Pfeifen. Die paar Frauen, die dabei waren, saßen dazwischen und wußten nicht, was sie davon halten sollten. Das ist die Stimmung bei uns: Ihr Frauen dürft hier sein, aber ihr habt einen Gaststatus. Ihr dürft nichts Eigenständiges sein. Ihr dürft an das Gerät, wenn ich nicht muß.

Ich würde hierzu gerne Regine Reichwein befragen, denn sie ist ja nun ein bißchen älter und hatte mehr Gelegenheit, sich damit auseinanderzusetzen. Was könnte feministische Wissenschaft am Fachbereich Energie- und Verfahrenstechnik bedeuten?

Reichwein: Ich will ehrlich sagen, ich bin ein bißchen überfragt, denn ich bewege mich bei der feministischen Naturwissenschaftskritik auf einer anderen Ebene. Die bezieht sich auf die diesen Wissenschaften inhärenten Denkstrukturen oder Kategorien, mit deren Hilfe das hergestellt wird, was anschließend als „Wirklichkeit“ behauptet wird.

Zum Beispiel: Das Denken in Gegensätzen, das „Vaterprinzip“ des Logos, wie C.G.Jung sagt, das Denken in Ursachen und Wirkungen, die Trennung zwischen Beobachter und Beobachteten, mit der immer wieder versucht wird, so etwas wie Objetivität herzustellen, obwohl es seit der Quantenphysik ganz andere Betrachtungsweisen gibt usw.

Feministische Kritik bezieht sich auf die Grenzziehungen und Aufspaltungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte extrem verfestigt haben, Spaltungen zwischen Geist und Materie, Denken und Fühlen usw. Sie hat sich auch mit Fragen auseinanderzusetzen, was es zum Beispiel für die Wissenschaft bedeutet, von einer Einheit des Wirklichen auszugehen.

Gleichzeitig kann feministische Wissenschaftskritik heute aus den Naturwissenschaften Anregungen nehmen, um für sich selbst neue Ansätze zu entwickeln. Zum Beispiel: Ergebnisse der Chaostheorie und der Forschung der dynamischen Systeme haben gezeigt, daß bestimmte Trennungen, zum Beispiel magnetisiert - nichtmagnetisiert, Turbulenz - nichtturbulent usw. für die Grenzbereiche nicht mehr möglich sind, dort greift immer beides, was eigentlich als Gegensätzliches gedacht ist, ineinander. Gleichzeitig hat sich herauskristallisiert, daß bei dynamischen Systemen, das heißt auch im makrophysikalischen Bereich, Ursachen und Wirkungen nicht mehr auf die gleiche Weise miteinander verknüpft werden können, wie man aus der Betrachtung von Systemen in der Nähe des thermodynamischen Gleichgewichtes glaubte, immer noch ableiten zu können. Und das hat Konsequenzen in bezug auf Vorstellungen von Herrschaft und Kontrolle über die Natur beziehungsweise des Menschen über den Menschen sowie in bezug auf die Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit bestimmter Prozesse. Das wiederum hat Konsequenzen für bestimmte andere Konzepte und gilt dann auch für Energie- und Verfahrenstechnik.

Kannst Du Deine Überlegungen noch einmal an einem Beispiel erläutern?

Reichwein: Zum Beispiel liefert die Fraktaltheorie unter anderem höchst interessante Beispiele für maßstabsabhängige beziehungsweise maßstabsunabhängige Strukturen und Prozesse und Hinweise dafür, daß sogar die Dimensionalität eines Gegenstandes abhängig ist vom Maßstab, den der Beobachter an das zu Beobachtende anlegt, das heißt, sogar die Dimensionalität ist durch die Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem bestimmt. Vereinfacht gesagt ist zum Beispiel ein Wollknäuel aus großer Entfernung betrachtet punktförmig, das heißt nulldimensional, und erhält seine fadenhafte, eindimensionale Struktur erst bei näherer Betrachtung.

Bei weiterer Veränderung des zugrunde gelegten Maßstabes erkennt man zunächst, daß der Faden dreidimensionale Qualitäten hat, bis man schließlich in Bereiche vordringt, wo Dimensionen in dem bisherigen Sinne keine Rolle mehr spielen, weil man sich in energetischen Feldern bewegt.

Diese Auseinandersetzung um die Grundlagen naturwissenschaftlicher Erkenntnis wird ja nun schon eine ganze Weile geführt. Aber mir ist nicht klar geworden, wo da die Verbindungslinie ist zu dem speziellen Interesse von Frauen, wie diese Erkenntnisse umgesetzt werden können.

Reichwein: Es ist ein Riesenschritt. Denn die internalisierten Denkstrukturen, die gehen nicht von heute auf morgen weg. Aber man kann zumindest versuchen, sich Alternativen zu überlegen, und damit auch angreifend und aggressiv umgehen. Denn diese Denkstrukturen sind ja auch zur Diskriminierung und Ausgrenzung von Frauen benutzt worden.

Ulla Bock: Wenn es von der Beziehung zum Beispiel von Nähe und Ferne abhängt, wie ich einen Gegenstand wahrnehme, dann kann ich auch sagen, es hängt vom Geschlecht ab. Ein Mann sieht möglicherweise einen Gegenstand im medizinischen Bereich - ich denke hier vor allem an die Gynäkologie anders als eine Frau. Denn er hat andere lebensgeschichtliche Hintergründe, Erfahrungen etc. Insofern ist also die Wahrnehmung der wissenschaftlichen Gegenstände, ob es nun in der Medizin, in der Gentechnik oder in der Psychologie ist - abhängig vom Geschlecht. Hier können Erkenntnisse aus der Naturwissenschaft und ihre Argumentationsweise möglicherweise fruchtbar gemacht werden.

Schaeffer-Hegel: Von feministischer Seite aus ist noch ungeheuer viel zu tun, um aufzuzeigen, daß die traditionellen Grenzsetzungen, Definitionen, Begrifflichkeiten in sämtlichen Disziplinen historisch gesehen in ganz engem Zusammenhang mit männlichen Interessen und Selbstdefinitionen stehen. Welche Fragen werden gestellt, welche Ergebnisse werden angestrebt und wie richten sich danach die Methoden aus? Diese neue Ebene der Ideologiekritik in der Auseinandersetzung über Erkenntnismodalitäten ist meines Erachtens noch längst nicht abgeschlossen.

Kannst Du ein Beispiel dafür geben, wie sich dieser männliche Standpunkt in der Forschung auswirkt?

Schaeffer-Hegel: Sehr bezeichnend ist die Forschung über die Aborigenes in Australien. Diese hatte nicht nur für die Ethnologie und Anthropologie große Bedeutung, sondern auch für die philosophische Grundlagenforschung, weil man davon ausgegangen ist, die Aborigines seien sozusagen der Grundtyp der menschlichen Gesellschaft. Wenn jetzt nachgewiesen werden kann, daß immer nur männliche Ethnologen die Beobachter waren, überwiegend mit Männern gesprochen haben, Fragen gestellt und „männlich“ getönte Interpretationsmuster angewandt haben; daß die Forscherinnen zu ganz anderen Ergebnissen kommen, so sind das revolutionierende Erkenntnisse. Zum Beispiel wird dadurch das Paradigma des „Frauentauschs“ als ursprünglichstes Instrument zur gesellschaftlichen Integration überhaupt in Frage gestellt. Es wird absurd, wenn man diese Gesellschaften von der Seite der Frauen her betrachtet. Damit ist noch nicht gesagt, daß alles, was früher von den Männern beobachtet worden ist, falsch und daß das, was die Wissenschaftlerinnen dort finden, richtig sei. Die Betrachtungsweisen hängen eben ab von der Beobachtungsperspektive und dem eigenen Standort. Und der war über Jahrhunderte hinweg ein rein männlicher. Die Begriffe und Kategorien, die in unsere Sprache eingegangen sind, und mit denen wir denken, auch wir Frauen, sind in fundamentaler Weise von männlichen Perspektiven geprägt. Das für alle Disziplinen auszubuchstabieren und nachvollziehbar zu machen, das erscheint mir eine sehr interessante und erkenntnisbringende Aufgabe. Die Folge wäre eine grundlegend andere Einschätzung über Wissenschaft.

Reichwein: In jeder Disziplin gibt es Bereiche, die dringend aufgearbeitet werden müssen. Um ein anderes Beispiel zu nennen: In der Landschaftsplanung hat über Jahrhunderte hinweg ein spezifischer Naturbegriff eine Rolle gespielt, der wiederum mit Herrschaft und Kontrolle zu tun hatte. Dieser hat sich zum Beispiel in den repräsentativen französischen Gärten mit ihren beschnittenen Bäumen und Sträuchern manifestiert.

Diese Art der Auseinandersetzung erfordert jedoch auch eine enorme psychische Leistung, nicht nur eine kognitive. Aus folgendem Grund: In die sogenannte patriarchale Wissenschaft sind eine Fülle von Verdrängungen eingegangen, die gleichzeitig Illusionen erzeugt haben. Die Illusion von Macht und von Kontrolle über bestimmte Prozesse oder von Objektivität und Vorausberechenbarkeit. Das bedeutet gleichzeitig, daß man sich ein abgegrenztes Feld geschaffen hat. Dort glaubt man sich relativ sicher vor Hilflosigkeit, vor Ausgeliefertsein, vor Vernichtung. Das ist ein Irrtum. Wir sind alle sterblich.

Wenn man anfängt, sich mit dieser Art von Wissenschaftskritik auseinanderzusetzen, wird man mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert. Die patriarchale Wissenschaft versucht ja gerade, diese Ängste aus dem Bewußtsein herauszukatapultieren. Daher setzt die Kritik die Bereitschaft voraus, sich mit den eigenen existenziellen Fragen und den Unsicherheiten, die damit verknüpft sind, zu konfrontieren. Um so wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Kooperation von Frauen mit Frauen. Denn die emotionale Unterstützung ist sehr nötig, wenn man sich mit bestimmten Fragen auseinandersetzt, durch die Verdrängungen ans Tageslicht kommen. Nicht umsonst halten viele Wissenschaftler an dieser Illusion von Kontrolle und Herrschaft fest.

Ihr habt einen Unterschied zwischen feministischer Wissenschaft und Frauenforschung gemacht. Worin besteht er?

Elke: Ich denke, Frauenforschung heißt, daß Frauen zu Objekten der Forschung gemacht werden, beforscht werden, und das können Männer natürlich auch machen. Feministische Forschung geht darüber hinaus. Für mich ist das Forschung im Interesse der Frauen, und sie wird von Frauen gemacht. Frauenforschung in der Psychologie kann zum Beispiel heißen, daß es ein Projekt über Bulimie gibt. Dort werden Frauen zu Forschungsobjekten degradiert, weil nicht deutlich wird, was mit den Informationen später gemacht wird.

Schaeffer-Hegel: Historisch ist das vielleicht nicht ganz so. Der Begriff Frauenforschung wurde zum Beispiel in den USA durchaus in dem Sinne verwendet, daß es Forschung ist, die von Frauen im Interesse von Frauen gemacht wird. Bei der historischen Frauenforschung ist das ganz deutlich. Sie hat das, was ausgegrenzt und nicht beachtet wurde, wissenschaftsfähig gemacht und neue Fragestellungen entwickelt. Die Grenzen zwischen Frauenforschung und feministischer Forschung sind sicher fließend. Vielleicht ist es auch eine Frage der persönlichen Präferenz, mit welchem Etikett man lieber behaftet ist. Da gibt es sicher Unterschiede, auch bei den Feministinnen selbst.

Ich würde feministische Wissenschaft als wissenschaftliche Anstrengungen definieren, den Konsens, der in einer patriarchalischen Gesellschaft hergestellt wurde und wird, zu analysieren. Wobei durchaus auch Kritisches über die Verhaltensweisen von Frauen zutage kommen kann.

Claudia: Wieso sprichst Du von Frauen eigentlich immer in der dritten Person? Das sind doch wir!

Schaeffer-Hegel: Okay, meistens sage ich auch „wir“. Also: Auch bestimmte Deformationen bei uns Frauen gehören zur feministischen Wissenschaft. In erster Linie geht es jedoch um eine Analyse derjenigen Merkmale und Strukturen, die politisch wirksam geworden sind und eher von der maskulinen Seite her kommen. Das heißt, feministische Wissenschaft muß sich ebenso intensiv mit Männern und ihren Institutionen auseinandersetzen.

Elke: Also, wenn es bei feministischer Forschung um die Frauen geht, ist es ja klar, daß es auch um das Geschlechterverhältnis und damit auch um Männer geht.

Schaeffer-Hegel: Nee, nee. Nicht in diesem Zusammenhang. Es geht darum, was an maskulinem Gehalt in den gesellschaftlichen Institutionen und Normen steckt.

Susanne: Was heißt maskulin? Also von Männern geschaffene Strukturen?

Schaeffer-Hegel: Wenn ich maskulin sage, dann möchte ich damit deutlich machen, daß maskuline Strukturen nicht unbedingt etwas mit den biologischen Einzelmännern zu tun haben: Daß die einzelnen Männer sich sehr unterschiedlich diesen patriarchalen Strukturen angepaßt haben beziehungsweise von ihnen geprägt sein können. Dennoch gibt es auf einer verallgemeinerbaren Ebene maskuline Strukturen ebenso wie feminine. Ich denke, man hat mehr gedanklichen Spielraum, wenn man die Strukturen anders nennen kann als die biologischen Einzelwesen. In der englischen Sprache gibt es die Unterscheidung zwischen „gender“ und „sex“. Im Deutschen haben wir nur die Wörter männlich und weiblich, in denen wir uns immer verheddern. Denn es wird nie klar, ob wir jetzt über etwas Kategoriales oder über etwas geschichtlich Gewordenes reden. Im Englischen ist die biologische Differenzierung „sex“ und die soziale „gender“, und das muß eben nicht immer deckungsgleich sein.

Susanne: Ich habe Schwierigkeiten mit diesen Begriffen männlich-weiblich, und ich benutze diese Wörter schon überhaupt nicht mehr, weil sie immer gesellschaftliche Zuschreibungen enthalten.

Reichwein: Das ist dieses Denken in Gegensätzen, das nicht mehr ausreicht, um der Komplexität des Wirklichen adäquat zu sein.

Ich sehe das anders. Bevor überhaupt über die Auflösung der Gegensätze nachzudenken ist, muß ein Bewußtsein darüber entstehen, daß Geschlecht eine sehr bestimmende Kategorie ist. Und das ist für mich auch das Zentrale an der feministischen Wissenschaft. Daß es einen Unterschied macht, ob ein Mann oder eine Frau forscht. Wie sich das konkret ausprägt, steht auf einem anderen Blatt, und es kann sehr sehr unterschiedlich sein. Ich sehe darin weniger eine Festschreibung als eine Aufdeckung, was sonst immer zugedeckt wird, nämlich einer scheinbar geschlechtsneutralen Wirklichkeit und insbesondere Wissenschaft. Das ist für mich ein befreiendes Moment. Und dann können Frauen anfangen, sich zu fragen, welches sind unsere Interessen, und das kann meinetwegen in Richtung neue Denkstrukturen gehen. Weil wir erkennen, daß uns dieses Denken in Fallen geführt hat, sei es in den Naturwissenschaften oder in den sozialen Verhältnissen. Aber zunächst ist es für mich ganz wichtig, diese Differenz zwischen Männern und Frauen festzuhalten.

Reichwein: Mir ist in dieser Diskussion über die Inhalte feministischer Wissenschaft noch etwas anderes wichtig. Das, was jahrhundertelang von Männern gemacht worden ist - Frauen zu definieren, zu bestimmen, wie sie zu sein haben -, betreiben nun Frauen mit sich selbst. Ein eigentlich aggressiver Akt - seitens der Männer - rückt so manchmal in die Nähe von Autoaggression. Statt sich zu sagen, ich will mich mit meinem Gegenüber, meinem Umfeld, auseinandersetzen. Dazu gehören insbesondere die Männer und die von ihnen geschaffenen Strukturen. Frauen gehen häufig retroreflexiv mit sich selbst um. Das ist häufig eine Hemmschwelle, aktiv etwas zu verändern.

Lara: Was meinst Du damit genau?

Reichwein: Das, was Barbara vorhin gesagt hat. Es ist wichtig, daß sich feministische Forschung auf Männer richtet und nicht rückbezüglich auf uns Frauen. Wir müssen den Focus auf die kritischen Bereiche legen.

Claudia: Mir geht es zum Beispiel in den autonomen Seminaren darum, daß Frauen sich selbst einen Schwerpunkt suchen. Frauen müssen sich überhaupt erst zusammenfinden, um bestimmte Sachen aufzuarbeiten. Da ist doch auch schon unter den Beziehungen der Frauen soviel Schwangeres drin, das aufgegriffen und aus dem Weg geräumt werden muß. Das geht nur innerhalb einer Frauengruppe. Dann, als zweiter Schritt, gehen wir gegen anderes vor. Gegen das Patriarchat, gegen Männer. Ich sehe die Trennung zwischen Patriarchat und Männern auch nicht ein, weil die Männer sind das Patriarchat.

Reichwein: Wir sind das auch.

Claudia: Gut, wir wehren uns nicht dagegen, das ist etwas anderes. Das verstehe ich als den ersten Schritt: Wir untersuchen das, was bei Frauen läuft und versuchen, uns darüber klar zu werden. Damit zwischen Frauen Solidarität entstehen kann, ist das eine Grundvoraussetzung.

Schaeffer-Hegel: Ich finde es ungeheuer wichtig, daß es solche Seminare als Ort der Selbstverständigung und Selbsterfahrung gibt...

Claudia: Ein autonomes Seminar ist etwas ganz anderes als eine Selbsterfahrungsgruppe!

Schaeffer-Hegel: Trotzdem legt es noch nichts fest über den Wissenschaftsbegriff.

Claudia: Wenn ich mich in meinem Fachbereich Landschaftsplanung mit anderen Frauen zusammensetze und untersuche, was uns an bestimmten Entwürfen stört, so ist das ganz konkrete wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Reichwein: Aber Du kritisierst die Planungen, die von Männern gemacht worden sind

Claudia: Oder auch meine eigenen Planungen. Wir suchen gemeinsam nach neuen Entwürfen.

Reichwein: Aber das ist genau der Focus, den ich meine: Setze ich den in mich hinein, oder setze ich ihn nach außen? Nur das meinte ich.

Lara: Sonst geht es nur darum, daß man patriarchale Strukturen in sich selbst aufzulösen versucht, die aber gegenüber dem, was außerhalb an Unterdrückung passiert, minimal sind. Und daß man darin stecken bleibt.

Interview: Helga Lukoschat und Ursel Sieber

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen