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...doch wohl Prostitution!

Einiges zur Qual des Trinkgeldgebens. Vier Annäherungen an ein schon länger inter- und auch deutsch-binational viurlentes Thema  ■  Von Burkhard Straßmann

Also wenn Sie mich fragen: ich lehne Trinkgeld grundsätzlich ab! Es ist doch eine schreckliche Unsitte, so weitverbreitet wie lästig. Nehmen wir das Taxi: kommt es nicht heutzutage einer Mutprobe gleich, sich vierzig Pfennig herausgeben zu lassen, wenn der Tarif 12,6O DM beträgt? Man muß damit rechnen, daß der Kerl mit Vollgas davonjagt, ehe man ganz aus der Tür ist! Kennen Sie das Gewühle im Geldbeutel, das der Kellner im Edel-Cafe und in der Spelunke anstellt, weil er partout keine Groschen finden kann? Und Weihnachten erst, Neujahr! Der Zeitungsjunge, der Müllwerker, der (beamtete) Postler: alle tragen den gleichen Pudelblick, wie schwer sie es doch haben, daß sie uns Dienste leisten müssen...

Diese ganze verwöhnte Anspruchsbande, denken Sie nur einmal an all die Arbeitslosen, die „dritte Welt“? Ich bin kürzlich in Indien gewesen: das Elend dort. Die brauchen den „Tip“, wie sie's nennen, zum Leben (allerdings Vorsicht! Die wollen einen übel ausnehmen. Erschwindeln sich manchmal in einer Stunde einen Wochenlohn! Guten Reiseführer benutzen!

Und hier? Sei'n Sie doch mal ehrlich, Service gibt's bei uns nicht mehr, von Höflichkeit oder Nettigkeit ganz zu schweigen.

Dieser muffigen, übelgelaunten Bedienung soll ich auch noch zu ihrem fest eingeplanten Zubrot verhelfen (auf die übernächste Mark aufgerundet, versteht sich...)

Und war ein Chauffeur mal nett, Koffer geholfen, Tür aufgehalten, die Haare mal einen Kamm gesehen, ein gutes Gespräch gehabt: soll denn dieses gute Gefühl wieder zerstört werden, indem man ihn dafür bezahlt? Geld gegen Beziehung, das ist doch wohl Prostitution!

Über die DDR kann man alles mögliche sagen, eines haben sie geschafft: das Trinkgeldunwesen wurde als spätfeudal/kapitalistisch erkannt und eliminiert. Ein stolzer Mensch gibt kein Trinkgeld! Und gibt keins, basta!

Wenn ein Fahrgast mit der Betreuung durch den Taxifahrer zufrieden war und das in entsprechenden Worten zum Ausdruck bringt, dann wird diese Anerkennung für den Fahrer mindestens genauso wertvoll sein wie die Aufrundung des geforderten Fahrpreises auf einen runden Markbetrag mit dem obligatorischen „Stimmt so“. Je mehr sich neue gesellschaftliche Beziehungen der Menschen untereinander herausbilden, umso mehr verblassen die alten und überlebten Gepflogenheiten aus der kapitalistischen

Vergangenheit. (aus: Jürgen Engel: Hallo Taxi, Berlin DDR '82)

Trinkgeld; franz.: pourboire; niederl.: fooi; lat. munusculum (kleiner Liebesdienst), mercedula (elender Lohn), corollarium (Kränzlein, als Geschenk für Schauspieler, Dichter); engl. gratuity, tip (umkippen, jm. e. Wink geben; tipsy: angeheitert).

Genau hundert Jahre alt ist ein Separatdruck aus „Westermann's Monatsheften“ zur Trinkgeld-Frage von Doctor der Rechte und der Philosophie, Geheimen Justizrath und Proffessor zu Göttingen Rudolf v.Jhering. Hier seine Thesen zur Bekämpfung des Krebsschadens der Trinkgeldseuche:

Trinkgelder gehören zu den Unsitten wie das Duell und der Leichenschmaus.

Zu unterscheiden sind das Gefälligkeitstrinkgeld; der Zuschlag zum Lohn bei persönlichem Contact (praesens praesenti dat) und das Trinkgeld als Censur, mit der sich Schmeicheleien und Grobheiten sagen lassen.

Äußerst bedrohlich wirken die Zufälligkeit, Inconsequenz und Willkür, nach der sich die Höhe des Trinkgeldes bestimmt. „Es läßt sich in keine Regel bannen,

das Trinkgeld ist capriziös“.

Das einst freie Trinkgeld wurde zur zwingenden Einrichtung, vergleichbar der Wegelagerei des Mittelalters.

Die Wege, das Trinkgeld durchzusetzen, reichen von unmissverständlicher Höflichkeit bis zu Grobheit und Frechheit.

Es handelt sich in erster Linie um ein moralisches Problem für den Empfänger, denn durch überbezahlte Leistung wird der Verschwendungssucht das Thor geöffnet („Arbeitsleute trinken Champagner... ökonomischer Größenwahn... ökonomisches Delirium...ökonomische Tobsucht...“) Die organisierte Form der Bettelei hat eine depravierenden Einfluß, nagt am männlichen Stolz, indem er sie zu Unterwürfigkeit, falscher, berechnender Freundlichkeit und Gunstbuhlerei verführt. Ärgste Gefahr besteht für das weibliche Bedienungspersonal, das zu„nicht näher definirbaren Willfährigkeiten durch Trinkgelder verführt wird... von Stufe zu Stufe fällt... das Trinkgeld also ein Beförderungsmittel der Prostitution...„

Operationsplan: Trinkgeldannahme wird unter Strafe sofortiger Dienstentlassung gestellt; auf die Wirthe ist Pression auszuüben, wie durch bestimmte Zeichen im Reiseführer, etwa zwei gekreuzte Schwerter; es empfiehlt sich die sofortige Bildung eines Vereins!

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