Horror Vacui

■ Die Kleinstbürger des Emmanuel Bove

Peter Tomuscheit

Die Lektüre ist quälend. Die Helden sind Muster-Masochisten, sind Selbstverhinderer par excellence: jedem mühsam herausgebrachten „Ja“ folgt ebenso schnell ein „Aber“, jedem Schritt voran mindestens einer zurück; jede Bewegung verläuft im Kreis: im Teufelskreis. Jeder Blick, jede Geste, jede Handlung sagt: „Entschuldigung, daß ich geboren bin!“, und wenn sie einmal niemanden finden, der sie verachtet, verachten sie sich selbst um so mehr. Sie sind keine Kleinbürger, sondern Kleinstbürger. Wie ungeliebte Riesenbabys schlafwandeln sie durch eine unverstandene Welt. Ihren Charakter „hündisch“ zu nennen, wäre eine Beleidigung

-für die Hunde; denn diese haben doch die Fähigkeit, im Notfall zuzubeißen.

Der Schöpfer dieser Micker-Monster ist Emmanuel Bove. In den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts ein recht berühmter französischer Autor (Rilke zählte ihn zu seinen Vorbildern), schrieb er mehr als 20 Romane und Erzählungen, wurde jedoch nach seinem Tode 1945 bald vergessen und erst in den späten siebziger Jahren vor allem auf Anregung Becketts wiedergedruckt und so wiederentdeckt. Durch Peter Handke wurde Boves Werk auch in Deutschland bekannt, in seiner Übersetzung erschienen 1981 Meine Freunde und 1982 Armand. Auch der soeben erschienene Roman Die letzte Nacht stellt eine Variation dar des großen Boveschen Themas: das ewige zwangsläufige Scheitern der „wirklich kleinen Leute“. Der Kriegsinvalide Victor (in Meine Freunde), Armand und nun der „Held“ Arnold sind Drillingsbrüder im Geiste: Ihnen gelingt nichts, das aber vollkommen. Arnold hat sich bisher von der Frau eines „unbescholtenen Beamten“ aushalten lassen, bis deren Ehemann dahinterkam und ihm auflauerte. Es kommt zur Prügelei, am Ende liegt der Gatte bewegungslos am Boden. Arnold sieht als „Mörder“ nur noch einen Ausweg aus seinem ohnehin verpfuschten Leben: den Gashahn in seinem Hotelzimmer aufzudrehen. Er wird von einer „großen Unbekannten“ gerettet, flieht vor der Polizei und ist nun von der Idee besessen, alles durch eine gute Tat wiedergutzumachen. Ach, hätte er es doch nur sein gelassen: Je besser er sein will, desto schlimmer ergeht es ihm. Je mehr er sich müht, den einen großen Befreiungsschlag zu vollbringen, desto stärker zieht ihn der Strudel hinab.

Schon Victor in Meine Freunde war dem Irrtum verfallen, durch manisches Gutsein (also durch Selbst-Aufgabe) ließen sich Freunde (und damit Selbstachtung) gewinnen. Er scheiterte ebenso wie der Titelheld in Armand, der wähnte, er könne sein Glück bewahren, ohne demjenigen wehzutun, der es ihm zerstören will.

Es ist erschreckend, mit welcher Plausibilität Bove die Ausweglosigkeit des Geschehens schildert. Bei ihm scheint es auf der Landkarte des Lebens nur Sumpfgelände zu geben, und nie läßt er einen Zweifel daran, daß kein Ausweg aus diesem ewigen Morast führt, daß den Personen in diesem Leben nicht zu helfen ist. Es gibt keinen Ausweg und schon gar kein Zuhause, deswegen leben sie auch fast alle in Hotels. Sie sind jedoch nicht entwurzelt, sie scheinen nie Wurzeln gehabt zu haben. Da sie in sich selbst nicht heimisch sind, ist ihnen auch das Leben unheimlich, für Victor gar gab es „nichts Erschreckenderes als dieses regelmäßige Klopfen“ seines eigenen Herzschlags.

Da die Boveschen Figuren in sich selbst keinen Halt finden, müssen sie ihn außerhalb suchen - in Attitüden und Gewohnheiten. Das daraus gewonnene „Selbstvertrauen“ (ein bei Bove geradezu inflationär gebrauchtes Wort) ist flüchtiger Natur: „Je später es wurde, desto mehr schwanden die Frische aus meinem Gesicht, der Glanz aus meinen Haaren, die Bügelfalten aus meinen Kleidern. Nur unmittelbar nach der Toilette empfinde ich, einige Minuten lang, ein Wohlgefühl. Was ich sage, hat dann Geist. Meine Gesten gelingen mir geradezu vollkommen. Ich bin ein anderer Mensch.“

Hier, in der Beschreibung von Kleinigkeiten und scheinbar Nebensächlichem, zeigt sich eine Stärke Boves. Beckett nannte Bove einen „Meister des treffenden Details“ - man kann allerdings auch sagen: Hexenmeister. Denn die Romanfiguren ersticken letztlich an der Übermacht und Unverbundenheit der Details - und: Diese Qual überträgt sich auf den Leser. Mich hat besonders gepeinigt, daß keine auch noch der unwichtigsten Nebenfiguren irgendetwas einfach so machen kann, ohne schier endlose Tiraden der Rechtfertigung abzugeben. Dies ist nicht nur für Arnold, „für den alles, was an Klarheit mangelte, eine Falle war“, eine Tortur.

„Wundern Sie sich bloß nicht über die Überfülle an Details, die ich Ihnen gebe“, sagt ein alter Mann zu Arnold, bevor er sich umständlich in einer banalen Geschichte verheddert. Wir aber, die Leser, dürfen uns wundern und fragen, ob es denn ein Zufall ist, daß Bove gerade von einem Schriftsteller der „Neuen Deutschen Innerlichkeit“ für Deutschland entdeckt wurde, einer literarischen Richtung, die die Handlungshemmung ebenso mystifiziert wie zelebriert und in der gewöhnlich Geschwätzigkeit den Mangel an Tatkraft ausgleichen soll.

Bove frönt also einem detailbesessenen Realismus, und dies unterscheidet ihn von seinem Zeitgenossen Kafka, der seine Angst vor dem Leben in gewaltige, geheimnisvolle Bilder zu setzen vermochte. Beide verbindet jedoch ihr Kleinheitswahn (der ja nur ein Größenwahn mit umgekehrten Vorzeichen ist). Bove läßt jemanden sagen: „Ich bin, verstehen Sie mich richtig, ich bin der letzte der Menschen. Viele sind gesellschaftlich noch tiefer gefallen als ich, aber niemand, verstehen Sie, hat eine so häßliche Seele und ist sich gleichzeitig so darüber bewußt. Ich bin eigennützig, heuchlerisch, schöntuend, verlogen.“ Hier protzt jemand, er sei Weltmeister des Negativen, und alle anderen Boveschen Figuren buhlen mit ihm um diese perverse Auszeichnung. Bove ist - wie Kafka - ein Hohepriester der Niedrigkeit.

Der Larmoyanz - die Kafka in der Literatur mehr noch als im Leben durch unerbittliche Strenge im Zaum zu halten versuchte -, Bove läßt ihr freien Lauf. Seine Anti-Helden sind geradezu grauenhaft weinerlich. Ob der Widerwillen, den dies beim Leser erzeugt, vom Autor beabsichtigt ist oder nicht, vermag ich nicht zu sagen (es ist aber letztlich auch nicht entscheidend). Soviel steht jedoch fest: Wer nach der Lektüre einer seiner Erzählungen nicht bis auf weiteres gegen Selbstmitleid gefeit ist, dem ist nicht zu helfen.

Treffend schrieb Jean Cassou, Poet und Kunsthistoriker und einer der letzten lebenden Freunde Boves, im Vorwort zur französischen Neuausgabe von Mes Amis: „All diese minutiösen Details von der Misere rufen nicht das Mitleid hervor, sondern den Horror.“ Es ist die Angst vor dem Nichts in dieser von Bove geschilderten Welt mit ihren blutarmen Geschöpfen, die keine Geschichte haben und also kein Wesen es ist der Horror Vacui.

Peter Tomuscheit

Von Emmanuel Bove sind in Deutschland erschienen:

Die letzte Nacht, Roman, Boettcher Verlag, 28 DM;

Meine Freunde, Roman, Bibliothek Suhrkamp, 16,80 DM;

Armand, Roman, Bibliothek Suhrkamp, 16,80 DM.