: Doch Glasnost in der DDR?
■ Überlegungen zu einer Lesereihe mit Marina Zwetajewas Revolutions-Poem „Der Rattenfänger“ an der Volksbühne Ost-Berlin
Marie-Luise Bott
Der sowjetische Nachbar ist mit einem kapitalen Umbau beschäftigt: Er bricht neue Fenster auf der Westseite durch, aber auch auf den Hinterhof der eigenen Geschichte hinaus, und ein frischer Durchzug treibt allmählich die Fäulnis aus den Mauern. Die politische Führung der DDR dagegen denkt nicht einmal ans Neutapezieren. Unvergeßlich bleibt doch jenes (geflügelte? nein: übel gestutzte) Wort der Verweigerung, mit dem Chefideologe Kurt Hager 1987 in die Geschichte einging. Da wird der Vertrieb der deutschsprachigen Sowjetzeitschrift 'Sputnik‘ verboten, die im Oktober 1988 einen kritischen Artikel zum Hitler-Stalin -Pakt abdruckte, fünf hervorragende sowjetische Filme verschwinden vorübergehend aus den Kinos, und das neue stachelige Programm Keine Mündigkeit vorschützen des Ostberliner Kabaretts „Die Distel“ wird kurzerhand abgesetzt.
Doch wie sehr sich die politische Führung auch vor einer sozialistischen Überfremdung aus dem Osten zu schützen sucht, es mehren sich - Dialektik der Geschichte! - die Anzeichen eines neuen kulturellen Aufbruchs. Der stellvertretende Kulturminister Klaus Höpcke antwortete auf Günter de Bruyns und Christoph Heins nachdrückliche Reden wider die Zensur mit der Ankündigung, eben jenes „Genehmigungsverfahren“ noch in diesem Jahr aufzuheben. Stefan Heym wurde öffentlich rehabilitiert und wieder neu verlegt. Der verfemte Heiner Müller kehrte in den Schriftstellerverband zurück, ist Mitglied im Theaterbeirat der DDR und kann dort allenthalben Premieren seiner Stücke besuchen. Erstmals hat die DDR auch wieder ihre Teilnahme am Westberliner Theatertreffen zugesagt. Und an der Ostberliner Volksbühne ist man nun sogar dabei, die sowjetische Glastnost zu überflügeln.
Der junge Regisseur Horst Hawemann regte hier eine neue Reihe mit dem Titel Gelesen an. Auf der kleinen Bühne im dritten Stock stellte sie in je fünf bis zehn Aufführungen einiges von jener Literatur vor, die in der Sowjetunion jetzt erstmals eine breite Öffentlichkeit erreicht. Also die Verwirklichung dessen, was Peter Lorf, stellvertretender Kulturminister, sich noch im Juli 1988 vor sowjetischen Journalisten gewünscht hatte: „Wir möchten schon, daß all das, was in diesen Tagen zu neuer Blüte gelangt in der sowjetischen Kultur, daß das auch eine Widerspiegelung findet in der DDR.“
Die erste Lesung, erarbeitet von Horst Hawemann zusammen mit der Schauspielerin Heide Kipp, galt Anna Achmatowa. Im Mittelpunkt stand ihr großes, erst vor zwei Jahren endlich auch in der Sowjetunion publiziertes Requiem (1935 1940) zur Erinnerung an die Opfer des Stalin-Terrors; die Übersetzung von Martin Remane erscheint demnächst in 'Sinn und Form‘. Im Januar nun folgte ein Abend über die Moskauer Lyrikerin Marina Zwetajewa (1892 - 1941). Er stellt einzig ihr über 2.000 Verse langes Poem Der Rattenfänger aus dem Jahre 1925 vor, eine „lyrisch-satirische“ Bearbeitung der deutschen Sage vom Rattenfänger von Hameln. Die Regisseurin Anne Hahn hatte es in der Staatsbibliothek in einer 1982 im 'Wiener Slawistischen Almanach‘ erschienenen zweisprachigen Ausgabe aufgestöbert und sich festgelesen: „Das ist alles Thema, Thema...“ Lily Leder übernahm die Dramaturgie. Winfried Wagner, Grandseigneur der Volksbühne, machte den Text sinn- und augenfällig. Das Brisante an dieser Geschichte aber ist, daß das Poem in der Sowjetunion bis heute aus ideologischen Gründen nur erheblich gekürzt vorliegt. Immerhin geht es darin um nichts weniger als Idee und Geschichte der Revolution. Doch ist es nicht leicht, aus Zwetajewas verknappter Sprache und ihrer freien, anspielungsreichen Gestaltung der Sage den epischen Bericht herauszuhören. Deshalb tut Winfried Wager gut daran, nach einem ersten suchenden Blick ins Manuskript die Grimmsche Sage vorzunehmen, ins Proszenium hinunterzugehen und sie dort auf- und abgehend noch einmal halblaut zu vergegenwärtigen. Zurückgekehrt zu Tisch und Lampe beginnt die Lesung: Abstoßend gleichmäßig, unverhohlen leidend entsteht da, einlullend und platt, das Bild von der braven, lauen, zufrieden stagnierenden und offenbar „archetypisch“ deutschen Kleinbürgerwelt. Zu den spöttisch revoltierenden Einwürfen der Autorin richtet sich Winfried Wagner schlank und gerade auf, um dann wieder in den Hamelner Dunst abzutauchen. Zum Nachtwächterlied verfällt er in einen schläfrigen torkelnden Singsang. Doch noch sinnlicher, unmittelbarer, sichtbar fast schleicht er sich mit der Autorin im Traum in die Prunkgemächer von Sattheit und Überfluß. Die Hand streicht sachte die Tischkante entlang, und man spürt förmlich den Samt des Treppengeländers. Knapp und sparsam wie Zwetajewas Sprache sind die szenischen Mittel, die Anne Hahn einsetzt. Aber sie geraten Winfried Wagner eben ungemein fein und treffend. Die Augen runden sich, der Mund wird ein weibisches, schnatterndes Maul - und schon sind wir zwischen Marktweibern und vollen Lagerhäusern.
Da ist eine Kleinbürgerwelt, die den Künstler zu ihrer zeitweiligen Befreiung zwar braucht, ihm aber Lohn und Anerkennung (das konkrete irdische Glück: Greta) verweigert. Und da sind die hungernden roten Ratten-Revolutionäre, die diese satte Welt im Sturm erobern: leises Fingertrommeln auf der Tischplatte, dann Rezitation im Marschrhythmus. Die III.Moskauer Internationale, die Komintern mit ihrem Ziel einer Weltrevolution, hatte 1919 noch große Hoffnungen auf Deutschland gesetzt. In Zwetajewas Rattenfänger-Fiktion werden sie groteske Wirklichkeit. Ist den Hamelner „Parasiten“ die Anklage noch ein Rätsel, summt Winfried Wagner schon die „Internationale“.
Doch dann wiederholt sich (und eben das fehlt in der sowjetischen Ausgabe) die Verbürgerlichung der Revolution, der Verrat ihrer Werte auch auf deutschem, auf Hamelner Boden. Und es bedarf des Rattenfänger-Künstlers, um wieder auf den Weg der permanenten Revolution zu locken.
Wenn Winfried Wagner da ins Proszenium hinuntergeht und seine Zuhörer leise, aber eindringlich zum Aufbruch aufruft: „Trauert nicht den warmgesessenen Plätzen nach! Veränderungen!“, dann meint man beinahe Kulturminister Hans Joachim Hoffmann persönlich zu hören: „Nach dem Wesen der Dinge zu suchen, das ist eine Aufgabe des Theaters (...) Es gibt ein neues Denken in der Sowjetunion, in anderen sozialistischen Ländern, bei uns. Das ist nicht nur im Kommen, das ist eine Normalität. Das Sicherste ist die Veränderung“ (Juni 1988, im Gespräch mit 'Theater heute‘). Glänzend dann, bequem zurückgelehnt und die Füße auf dem Tisch, die Verkörperung der verspießerten Ratten (vom Publikum mit wachsendem Lachen wiedererkannt), bis sie schließlich doch der Flöte folgen.
1925, als Kriegskommissar Trotzkij bereits abgesetzt war, Stalin seine Thesen vom „Sozialismus in einem Land“ verkündete und die Sowjetunion sich zu entscheiden hatte, welchen Weg sie gehen wollte: den Stalinschen oder Trotzkijs Weg der „permanenten Revolution“ - da hatte Zwetajewa schon längst gewählt. Für sie gab es nur eine permanente Revolution: die des Geistes und der Kunst, ihre einzige und „ewige Internationale“. Doch sah sie auch, daß es für eine derart erfüllte, freie Existenz in ihrer Zeit keinen Raum mehr geben würde. Und so folgte - nach der Diskussion der Ratsherren über das Wesen der Musik, „das Unzulängliche, hier wird's Ereignis!“ - der Untergang des Rattenfänger -Dichters mit den Kindern in ganz ungeschönter Realistik. Wunderbar, wie Winfried Wagner sich zu den schläfrigen, Wecker und Schule hassenden Kindern hinlümmelt, wie zum Klang der Flöte mit einemmal alles an ihm erwacht und Freude und Schrecken sich zum Schluß hin untrennbar vermischen.
„Zwetajewa, das ist wie: bei klarem Verstand berauscht“, sagte eine Zuhörerin. An der Volksbühne fand Regisseurin Anne Hahn einen Virtuosen, der - trotz der spröden Prosa -Übersetzung - die reiche Intonation und revolutionäre Musikalität des Originals freisetzte.
(Die Reihe wird fortgesetzt mit Abenden über Ossip Mandelstam und Alexander Twardowskij.)
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