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Recht auf Mitleid

■ Kirchenvertreter, PanAm-Angestellte und Mitarbeiter des Innensenats diskutierten über den Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ und die Asyl- und Abschiebepolitik des Senats

„Das Wahlergebnis zeigt, daß der Begriff 'Wirtschaftsflüchtling‘ seine schleichende Wirkung getan hat.“ Hans Tomä-Venske gehört zu den Kirchenvertretern, die am Freitag abend mit Vertretern des Innensenats und der Ausländerbehörde sowie PanAm-Angestellten über das Asylrecht und Abschiebungen diskutierte.

Der evangelische Ausländerbeauftragte nahm daher die Zimmermannsche Zahl von 90 Prozent „Wirtschaftsflüchtlinge“ systematisch auseinander: So befänden sich unter den 90 Prozent abgelehnter Asylanträge 20 bis 30 Prozent „sonstige Erledigungen“ - wie Weiterreisen oder Antragsrücknahmen. Von den restlichen 60 Prozent abgelehnter Asylbewerber wurden nach einem Bericht der Innenministerkonferenz vom April 1988 fünf Prozent 1987 abgeschoben, zehn Prozent reisten „unter Überwachung“ aus, 16 Prozent seien untergetaucht. Aus rechtlichen, humanitären, politischen oder organisatorischen Gründen (fehlender Paß) erhalten rund 60 Prozent der abgelehnten Flüchtlinge eine „Duldung“ oder eine Aufenthaltserlaubnis durch Abschiebestopp oder die sogenannte Berliner Altfallregelung.

Unter den „hinausdefinierten“, abgelehnten Asylbewerbern befänden sich auch Folteropfer, wenn die Folter laut westdeutschen Gerichtsurteilen als „landesübliches allgemeines Phänomen“ gelte und die Verfolgten nicht nachweisen können, daß die Folter politisch motiviert gewesen sei, erklärte Tomä-Venske weiter. Familienangehörige von Asylberechtigten gelten als nicht asylberechtigt (im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern); für sie bestehe aber rechtlicher Abschiebeschutz ebenso wie für Flüchtlinge, in deren Heimatland Menschenrechtsverletzungen stattfinden.

Die Krichenvertreter forderten für diese Flüchtlinge einen gesicherten Rechtsstatus im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, derzufolge auch für Straftäter ein Verbot der Ausweisung in das Heimatland bestünde. Oberregierungsrat Ulrich von Chamier sieht jedoch „Chaos und Faustrecht“ ausbrechen, „wenn jemand mit Rauschgift in der Tasche hier einreist“ und bleiben dürfe. Außer diesen Vorurteilen und zehnminütiger Aufzählung von statistischen Zahlen bot der für die 1988 insgesamt 1.162 Abschiebungen zuständige Beamte noch folgende Bemerkungen, die unter den etwa 200 Anwesenden laustarke Empörung auslösten. Er habe jetzt soviel Schlechtes über die Zustände im „Abschiebegewahrsam“ und bei Abschiebungen gehört, daß er sich wundere, „warum dann noch so viele Menschen - 103.000 im letzten Jahr - in die Bundesrepublik gekommen sind“. Chamier weiter: „Die Abschiebehaft ist die einzige Haft, die der Betroffene selbst beenden kann, indem er ausreist!“

Auch der Staatssekretär des Innensenats, Wolfgang Müllenbrock, berief sich auf Paragraphen und „unsere demokratische Grundordnung“, nach der negative Asylentscheidungen auch umgesetzt werden müßten, „wenn man glaubwürdig bleiben will“. Dies gelte besonders für Rauschgift-Straftäter, die er als „potentielle Mörder“ bezeichnete. Da die „kleine“ Bundesrepublik kein Einwanderungsland sei und „nicht alle Not der Welt mindern“ könne (Müllenbrock), werden auch Nicht-Straftäter abgeschoben, wie in der vergangenen Woche ein Libanese, der seine deutsche, schwangere Freundin aufgrund des fehlenden Passes nicht mehr heiraten konnte. Sie fragte auf der Veranstaltung die Beamten auf dem Podium verzweifelt, ob sie denn nun etwa auch in den Libanon gehen sollte.

Helmut Bojanowski vom PanAm-Betriebsrat schilderte die Empörung einer Stewardess, die sich bei dieser Abschiebung angesichts der Gegenwehr des Libanesen weigerte zu fliegen; gegen sie läuft jetzt ein Verfahren wegen Arbeitsverweigerung. Bojanowski dazu: „Wir lassen uns das Recht nicht nehmen, Mitleid zu empfinden.“

Martina Miethig

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