Spielen ist Leben - Leben ist Spiel

Italiener und ihre „giochi“ - von Boccia bis zur Politik  ■  Werner und Xenia Raith/Rom

„Wir müssen“, sagte Italiens sozialistischer Ministerpräsident Bettino Craxi in seiner Regierungserklärung 1983, „die Spielregeln ändern.“ Sein christdemokratischer Nachfolger Ciriaco De Mita versprach 1987 dasselbe, und auch die Opposition hat nichts dagegen, im Gegenteil: „Diese Regierung“, tönte Kommunistenchef Achille Occhetto, „wird daran gemessen, wieweit sie zur Änderung der Spielregeln bereit ist.“

Die Berufung auf die „Regeln des Spiels“ („regole del gioco“) ist keineswegs nur eine der vielen Metaphern in der italienischen Sprache. Die davon reden, meinen es ernst - so ernst, wie man eben nur ein Spiel nehmen kann. Spielen und Spiel gehören in Italien keineswegs nur der Kinderwelt oder dem Sport: Das Leben ist Spiel, und Spielen ist Leben. Eine für uns Deutsche nur schwer verständliche Einstellung, denn sie hat nichts Infantiles und auch nichts nur Freizeitlich -Ausgelassenes an sich. Spielen ist Kultur, und Kultur entfaltet sich nur im Spiel - nicht im spielerisch Unverbindlichen, sondern in der Realisierung immer neu erdachter und realisierter Situationen. Craxi und De Mita verstehen darunter zum Beispiel die Art, wie sich die Parteien auseinandersetzen. Wir Nordleute verstehen Spiel gemeinhin als genau definiertes Netzwerk von Regeln, zugelassenen und ausgeschlossenen Mitspielern und Spielgeräten; mitspielen darf nur, wer zugelassen ist und sich an die Regeln hält.

Nichts davon in Italien. Natürlich: Spiele haben auch da Regeln, doch die sind kaum einmal festgezurrt, man kann sie jederzeit ändern. Wer einmal mit Italienern am Strand Fußball spielt, kennt das: Abseits - na wozu denn; Ausball können wir uns sparen; Fouls - um Himmels willen, wir sind doch Freunde. Falls Ihr doch darauf besteht, führen wir's halt ein, auch gut, aber lange nicht so schön. Wenn bei internationalen Spielen humorlose Schiedsrichter regelgenau pfeifen, ist das keinerlei Grund, ihnen recht zu geben - man kann doch auch einmal ein bisserl anders entscheiden. Als ein Schiedsrichter nach dem Spiel Florenz - Turin zugab, einen Strafstoß als Kompensation für eine frühere Fehlentscheidung verhängt zu haben, zogen die Turiner vor Gericht - doch das befand, daß der Schiedsrichter „für das Gesamtspiel“ verantwortlich sei und so auch schon mal an den geschriebenen Regeln vorbei menschlich sein dürfe.

Auch die Zahl der Mitspieler richtet sich in Italien kaum einmal nach vorgeschriebenen Regeln - plötzlich sind da welche dabei, an die vorher keiner gedacht hat, in der Politik wie im Alltag: längst ins Abseits geschobene Oldtimer des politischen Machtspiels (es heißt offiziell tatsächlich „gioco del potere“) tauche wieder auf und übernehmen große Rollen, weil andere Teilnehmer das als günstig erachten, andere verschwinden plötzlich von der Bildfläche: jahrelang verkrachte Familienmitglieder finden sich wieder zusammen, um in einer umsichtigen Aktion einen Vetter auszumanövrieren, weil der „zu hoch gespielt“ und die Familie dominiert hatte. Und selbst beim Fußballspiel kommt es, jedenfalls beim Kicken auf der Straße, auf einen mehr oder weniger nicht an - wer zu spät kommt, wird halt auch noch hineingestellt, auch wenn die Mannschaften nun ungleich groß sind.

Wie das Leben nach spielerischen, aber nie feststehenden Regeln abläuft, so sind umgekehrt auch die Spiele diejenigen, die auch wir als Spiele verstehen - intensiv mit dem tagtäglichen Lebensritus und -rhythmus verknüpft. So spiegelt sich zum Beispiel in vielen Gegenden die noch immer weitgehend von Männern beherrschte Öffentlichkeit in der Exklusivität verschiedener Spiele wider: Karten, Schach, Billard, vornehmlich in den Hinterzimmern ältlicher Espressobars gespielt, sind ausschließlich Männern vorbehalten - Frauen müssen, wenn sie mal Karten spielen wollen, dies heimlich und zu Hause tun. Und sichtlich Grauen erregt im größten Teil Italiens die Teilnahme von Frauen am berühmtesten Spiel des Landes, dem Boccia. Nicht, daß man das Kugelwerfen nur Männern zutraut, aber bei diesem Spiel diskutieren die Herren der Schöpfung über Politik, Geschäft, Wirtschaft und die anstehenden Intrigen gegen irgendeinen Stadtrat - Dinge, von denen Frauen bekanntlich überhaupt nichts verstehen. Eher schon zugelassen sind die männlichen Nachkommen der Spieler - die Einladung, da mitzuspielen (meist erst, wenn sie gut 30 sind) gilt als eine Art Anerkennung der Mannbarkeit.

Freilich gelten nicht nur Frauen und Unreife als Boccia -untauglich: auch die badehosenbekleideten Teutonen, die am Sandstrand die Kugeln nach der Setztaube werfen, bekommen nur mitleidige Blicke, weiß man doch, daß erstens im Sand vernünftiges Zielen nicht möglich ist, und zweitens, daß die sich da nur vergnügen und nicht politisieren - mithin gar nicht im echten Sinn ein Spiel durchführen.

Das einzige Spiel, das sich in Italien sozusagen geschlechter- und altersübergreifend gibt, ist gleichzeitig auch das beliebteste im Land: die Tombola, durchgeführt bei allen festlichen Gelegenheiten, von der Familienfeier bis zur Kirchweih. Meist wird sie in einer Art Bingo gespielt: man kauft sich am Lotteriestand eine Nummernsequenz (aus zweistelligen Nummern, im klassischen Spiel 15 Nummern), und dann wird, am festgelegten Tag, die Zahlenfolge gezogen. Es gibt zwei Ausspielungsmodi: entweder man muß auf seinem Zettel genau jene 15 gezogenen Zahlen haben. Oder aber es werden alle vorhandenen Zahlen (zum Beispiel von 1 bis 99) hintereinander gezogen, und gewonnen hat, wer als erster 15 der ausgelosten Zahlen vorweist.

Doch auch da wieder staunt der Fremdling, warum die Teilnehmer in so arge, nichtendenwollende Begeisterung verfallen: die gewonnenen Preise, meist sogar nur ein einziger Preis, strahlen nicht gerade Attraktivität aus; steht als Gewinn ein Scheck von 500.000 Lire bereit (650 Mark), so gilt dies bei vielen Karnevals- oder Stadtheiligenfesten schon als Riesensumme, oft aber geht es nur um einen Freßkorb oder eine Partie Wein, um die aber 600 oder 800 Teilnehmer spielen. Tatsächlich ist solches Spielen ein Teil uritalienischer Kommunikation: man freut sich beisammenzusein, gemeinsam Spannung zu erleben, herzlich über die hin- und herfliegenden Wortspiele zu lachen - und man ist neidlos glücklich mit dem schließlichen Sieger, man bewundert ihn, auch wenn er gar nichts für die zufällige Ziehung seiner Zahlen kann.

So wie man in der Politik alljene bewundert, die die „regole del gioco“ geschickt für sich ausnutzen oder im entscheidenden Moment so zu ihren Gunsten ändern, daß sie am Ende als Sieger dastehen.

Nein, nicht am Ende: denn niemand wird im Ernst glauben, daß ein Spiel irgendwann ein Ende hat. Es geht in jedem Fall weiter; einem Supergewinn, einer schlauen politischen Intrige folgt immer der noch größere Gewinn, die noch intelligentere Intrige, der Gegenzug - und, wenn nötig, die erneute Änderung der Regeln.