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Bayerische Linie in Saarbrücken

■ HIV-Infizierter wegen ungeschütztem Sex zu 22 Monaten mit Bewährung verurteilt / Leiter der Aids-Beratungsstelle brachte Prozeß in Gang / Eine Zeugenaussage genügte für die Verurteilung

Berlin/Saarbrücken (taz) - In Saarbrücken ist - erstmals außerhalb von Bayern und Baden-Württemberg - ein HIV -Infizierter wegen ungeschütztem Sex verurteilt worden. Das Landgericht Saarbrücken sprach „wegen versuchter oder vollendeter Körperverletzung“ eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten aus. Der Angeklagte - ein 24jähriger Mann, der gelegentlich auch als Strichjunge gearbeitet hatte - mußte zuvor neun Monate Untersuchungshaft absitzen.

Die Aids-Hilfe Saar hat jetzt in einer Pressemitteilung auf „die unrühmliche Fortsetzung der bayerischen Linie“ ausgerechnet im Saarland hingewiesen. Das Urteil im Prozeß gegen den 24jährigen Patrick W. war bereits vergangene Woche gefällt worden. Der Prozeß war in vieler Hinsicht bemerkenswert.

Der Leiter des Gesundheitsamts und der Aids-Beratungsstelle der Stadt Saarbrücken, Goebel, hatte den Fall vor Gericht gebracht. Als bei einem 27jährigen Taxifahrer im Sommer 1987 beim Blutspenden eine HIV-Infektion festgestellt worden war, betätigte sich das Amt als Fährtensucher. Über das sogenannte „Contact-Tracing“ (Rückverfolgung der Sexualpartner) sollte ermittelt werden, wer den Taxifahrer angesteckt hatte. Der wiederum nannte dem Amt als einzige Möglichkeit den 24jährigen W.

Patrick W. hatte bereits zum Jahresende 1985 einen HIV-Test ebenfalls im Gesundheitsamt der Stadt gemacht. Ergebnis: positiv. Der Test war nicht - wie inzwischen üblich anonymisiert worden. W. hatte seinen vollen Namen samt Adresse hinterlassen, auf die das Gesundheitsamt zurückgreifen konnte. Er wurde festgenommen und wanderte neun Monate in den Knast.

Vor Gericht bestritt W., daß er ungeschützten Sex mit dem Taxifahrer hatte. Ein Kondom sei benutzt worden. Die Vorsitzende Richterin Schick hielt dies für eine Schutzbehauptung. Sie glaubte dem Taxifahrer, der von zweimaligem ungeschütztem Sex sprach. Die zwei Kontakte mit W. seien die einzigen „Seitensprünge“ gewesen, behauptete der Mann, der außerdem auf 50.000 Mark Schmerzensgeld klagt. Nur W. könne die Ansteckung verursacht haben.

Ob W. tatsächlich den Virus weitergegeben hat, sollte ein Sachverständiger erklären. Da ein direkter kausaler Ansteckungsnachweis bei HIV aber nicht möglich ist und andere Sexualpartner bei dem Taxifahrer nicht grundsätzlich auszuschließen waren, blieb die Aussage des Sachverständigen sehr vage und umstritten. Er sprach von einer „wahrscheinlichen“ Ansteckung, weil der Taxifahrer bei allen Blutspenden bis zum Sommer 1987 immer „negativ“ gewesen sei.

Das Gericht verurteilte schließlich wegen versuchter oder vollendeter Körperverletzung. Der Vorwurf des versuchten Totschlags - so die ursprüngliche Anklage - war im Verlauf des Prozesses fallengelassen worden. Die Freiheitsstrafe von 22 Monaten wurde auf vier Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Die Tatsache, daß W. Analphabet und damit von wichtigen Informationsquellen ausgeschlossen ist, spielte in dem Prozeß keine Rolle.

Die Aids-Hilfe Saar kritisierte das „Klima des Mißtrauens und der Denunziantenfurcht, das durch den Prozeß geschaffen wurde“. Es sei besonders skandalös, daß ausgerechnet der Leiter der Aids-Beratungsstelle Strafanzeige erstattet habe.

Manfred Kriener

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