Frühling, Sommer, Herbst und Frühling

■ Der Phantomwinter 89 treibt Blüten / Rekordtemperaturen in ganz Europa / „Skilift zu verschenken“

Das Wetter in Europa spielt verrückt und beschert in diesem Winter Temperaturen, die nur wenig unter denen des letzten kalten Sommers liegen. Im Frankfurter Zoo treiben's bereits die Enten miteinander, das Amur-Adonis-Röschen steht in voller Blüte. Über die Ursachen des Jahrhundert-Januars streiten die Experten. Meteorologen verweisen auf Großwetterlagen, besorgte Anrufer fragen beim Wetterdienst nach Folgen des Treibhauseffekts.

Als der stellvertretende Direktor des Frankfurter Zoos gestern morgen durch seinen Tierpark lief, rieb er sich irritiert die Augen. Vor ihm marschierten Erpel und Enten, flirtend und schäkernd, pärchenweise über die sonnendurchflutete Wiese. Für Dr.Scherpner bestand aufgrund des eindeutigen Verhaltens kein Zweifel: „Die suchen schon Nistplätze.“ Das passiert sonst Mitte März. Temperatur und Sonne, Taktgeber im Fortpflanzungsgeschäft, hat den Enten -Fahrplan durcheinandergebracht.

Ein paar Steinwürfe von den Enten entfernt stehen die Steinböcke vergnügt im milden Frühlingslicht. Der Fachmann sieht's sofort: der Haarwechsel hat bei den Tieren schon begonnen, sechs Wochen zu früh. Eine Ecke weiter blinzeln Präriehunde noch etwas dösig in die Runde. „Die schlafen sonst fest um diese Jahreszeit“, sagt Scherpner. Jetzt lugen sie immer wieder aus ihrem Versteck und stellen überrascht fest, daß es zum schlafen eigentlich viel zu warm ist.

Januar und Februar 1989: ein Jahrhundertereignis. Rekordtemperaturen von Oslo bis London, von Minsk bis Castrop-Rauxel. Seit 1900 werden in der Bundesrepublik systematisch die Temperaturen gemessen. Noch nie in diesen 89 Jahren war es im Januar auf der Zugspitze so warm und sonnig wie in diesem Jahr: im Schnitt 2,6 Grad zeigten die Meßgeräte der Wetterstation auf Deutschlands höchstem Berg. Das sind über fünf Grad mehr als der in vielen Jahren ermittelte Durchschnittswert. 222 Stunden schien auf der Zugspitze die Sonne, das sind 80 Prozent der theoretisch überhaupt möglichen Sonneneinstrahlung.

Rekorde von Passau

bis Flensburg

Die Rekorde purzelten auch anderswo: 14 Grad Wärme in Freiburg, 12 in Karlsruhe, 189 Januar-Sonnenstunden auf dem Feldberg, und in Garmisch-Partenkrichen, sonst Zentrum des Wintersporttrubels, fiel an nur einem einzigen Tag im Januar etwas Schnee. Schon am nächsten Tag war er verschwunden, hingeschmolzen in der aufdringlichen Januarsonne. Im Monatsmittel fiel das Thermometer nur in Hof, in Stetten am kalten Markt (uff dr rauhe Alb) und in einigen Flecken des bayrischen Waldes unter den Gefrierpunkt. Ansonsten: landesweite Milde bei durchschnittlich zwei bis fünf Grad.

Beim deutschen Skiverband lösen die Codeworte „Winter“ und „Wetter“ nur noch Depressionen aus. Fragen von Journalisten werden bereits im Sekretariat stereotyp beantwortet: „Es gibt keinen Schnee, es gibt nirgendwo Schnee, es war noch nie so schlimm.“ Die Ski-Rennen sind „bis auf weiteres verlegt“ worden. Die Stimmung unter den Wintersportlern wird durch die Kleinanzeige eines Schweizer Skiliftbesitzers am deutlichsten beschrieben. Seine Annonce: „Funktionstüchtiger Skilift zu verschenken...“

Klimawechsel

und Wetterphänomene

Inzwischen häufen sich auch beim Deutschen Wetterdienst in Offenbach die Anfragen. Sensibilisiert durch die Diskussion um Treibhauseffekt und Klimaveränderung, fragen die Anrufer auch nach den man-made-Ursachen für die ungewöhnlichen Wetterphänomene. Meteorologe Meinhard Giebel: „Die wollen sogar wissen, ob Hamburg bald Lagunen- oder Köln Hafenstadt wird“.

Doch wenn es um die Ursachen des bisher so ungewöhnlichen Winters geht, zeigen die Meteorologen nicht auf Treibhausgase und Klimamodelle, sondern auf Hochs und Tiefs. Ein direkter ursächlicher Zusammenhang zwischen Wetterphänomenen und drohender Klimaveränderung läßt sich nicht beweisen. Der Münsteraner Klimatologe Prof.Bach: „Wir können das nicht nachweisen, wir können es aber auch nicht ausschließen.“

Nachweisbar ist allerdings, daß global in den letzten hundert Jahren die Lufttemperatur im Mittel um 0,6 Grad angestiegen ist, in der Nordhemisphäre um 0,7 Grad und in der Arktis sogar um 1,7 Grad. In der gleichen Zeit ist der Meeresspiegel im globalen Mittel um 10 bis 20 Zentimeter geklettert.

Dennoch: Der direkte Schluß von Wetterextremen auf den Treibhauseffekt gilt als unseriös, auch wenn für viele Wissenschaftler klar ist, daß Klimaveränderung und globale Erwärmung bereits heute meßbar und wirksam sind.

Verantwortlich für den bisherigen Verlauf des Winters ist nach Auskunft des Deutschen Wetterdienstes die Verschiebung der sogenannten Frontalzone. Diese Zone markiert den „Zusammenprall“ zwischen der kalten Luft aus dem Norden und der warmen aus dem Süden. Im Winter liegt diese Zone üblicherweise quer über Mitteleuropa. In diesem Jahr hat sie sich weit nach Nordskandinavien verschoben, die arktischen Luftmassen können, so Horst Dronia vom Seewetteramt des Deutschen Wetterdienstes, nicht bis in unsere Breiten vordringen. Sie wurden dagegen in Teilen der USA, Kanada, im Nahen Osten und jetzt auch in Mexiko registriert.

In Alaska sank das Thermometer auf minus 60 Grad. Autoreifen verklebten mit dem Straßenbelag, Eisenbahn -Schienen wurden unbenutzbar, die ausgeatmete „Luft“ fiel in Schneeflöckchen auf die Erde. Die Behörden riefen den Notstand aus.

Meteorologen und Klimatologen sind noch dabei, die Ursache für die Verschiebung der Frontalzone zu finden. Die Auswirkungen waren im Januar in ganz Europa als Wärmeschub und Niederschlagsmangel unübersehbar. Ein bombenfestes Hochdruckgebiet machte sich breit. 15 Grad in London und noch ungewöhnlicher- 14 Grad in Oslo wurden als Temperaturspitzen notiert. Im schwedischen Karlstadt registrierte die Wetterstation im Monatsmittel plus 4,1 Grad, das sind mehr als acht Grad über „normal“. 1,8 Grad war die Durchschnittstemperatur auf dem Schweizer Säntis (2.500 m), das sind 7,2 Grad zuviel. In Minsk wurden 8,2 Grad über dem üblichen Januarniveau gemessen. Und die Südwestspitze Finnlands meldete sich als schneefreie Zone.

Während die warmen Temperaturen überall die Hormone mobilisieren und Frühlingsgefühle freisetzen, sorgt die Niederschlagsflaute für Alarmstimmung.

Den trockensten Januar dieses Jahrhunderts meldet Norditalien. Verona, Venedig und Triest blieben im Januar ohne einen Tropfen Regen. Das Seewetteramt in Hamburg nennt aber auch „völlig ungewöhnliche“ Niederschlagsdefizite für Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien, Griechenland und Sizilien. „Ganz schlimm“ ist die Situation in Griechenland. Von acht Wetterstationen meldeten sechs weniger als sechs Prozent der sonst üblichen Niederschläge.

Die Winterlinge

stehen üppig

Eine kurzfristige Änderung des warmen Winters ist nicht in Sicht. Aber: Es kann noch knüppeldicke kommen, der Winter ist erst am 20.März zu Ende. Und das auch nur auf dem Kalender. Beim Deutschen Bauernverband, notorischer Nörgler, wenn's ums Wetter geht, weist man denn auch sorgenvoll auf die Spätfröste hin. Bei Wein und Obstbäumen steigt bereits der Saft. Schon in wenigen Wochen könnten die ersten Triebe aus der schützenden Knospe springen. Dann wäre ein Frosteinbruch verheerend.

Aber genug der Miesepetrigkeit. Wen die Januar- und Februarsonne noch immer nicht aufgetaut und nachsichtig gestimmt hat, sollte schleunigst durch den Botanischen Garten spazieren. Dort zeigen sich nicht nur die Winterlinge stolz und üppig. Das Amur-Adonis-Röschen steht in voller Blüte, die Karnevalsprimel rekelt sich freudig, aber auch Schneeglöckchen und Frühlingsknotenblume, Leberblümchen und Zaubernüsse machen dem Winter längst eine lange Nase, die Heckenkirsche hat kräftig ausgetrieben und selbst die Gärnter schreiten milde durch den Park.

Manfred Kriener