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Berlins Alternative im Koalitionstaumel

■ Am Samstag beschloß die Alternative Liste fast einstimmig Koalitionsverhandlungen mit der SPD

Heute kann in die rot-grüne Zukunft gestartet werden. Die ersten offiziellen Verhandlungen zwischen SPD und AL beginnen am Abend, nachdem am Samstag 1.000 Mitglieder der Alternativen Liste bei nur drei Gegenstimmen beschlossen, mit der SPD über eine Regierungsbildung zu verhandeln. Auf der Grundlage des Wahlprogramms will man „das Maximale herausholen“ - ein Forderungskatalog wurde nicht verabschiedet. Für ihre Beschlüsse brauchte die AL nur vier Stunden. Die erste Reaktion der SPD: Landesvorstandsmitglied Meisner zeigt sich von dieser Disziplin „beeindruckt“.

Einen solchen Ansturm hatte die Alternative Liste schon lange nicht mehr erlebt. Die Schultheiß-Hallen an der Kreuzberger Hasenheide platzten aus allen Nähten; ja, von den früheren Karteileichen waren so viele auferstanden, daß es kaum noch einen Stehplatz gab. Noch im September letzten Jahres waren gerade 60 AL-Mitglieder erschienen, um das Wahlprogramm zu verabschieden. Vorgestern kamen über 1.000 der insgesamt 3.000 Mitglieder, um möglichst ihr Votum für das rot-grüne Wagnis abzugeben.

Vielleicht war es diese Enge, die den Mitgliedern der AL die Lust auf eine längere Debatte nahm. Gerade fünf Frauen und fünf Männer hatten jeweils fünf Minuten geredet - manche über Hoffnungen, die meisten über ihre Probleme und Ängste beim Gedanken an Rot-Grün - als die Unruhe unter den Versammelten stieg und stieg, bis schließlich der Zuruf „Abstimmen“ nach vorne drang. Die folgende Abstimmung beendete die Generaldebatte schon nach einer Stunde, obwohl noch eine ganze Reihe auf den nach Männern und Frauen getrennten Redelisten stand. Und dann sah man plötzlich, wie im Saal alle die Arme nach oben streckten: in selten großer Einmütigkeit stimmten fast alle dafür, mit den Sozialdemokraten über eine Zusammenarbeit zu verhandeln („bis hin zur Koalition“). Drei Leute stimmten dagegen; ob das überhaupt ernst oder nicht eher als Scherz gemeint war, wußte niemand.

Bei aller Rot-Grün-Euphorie wurde im Verlaufe der kurzen Debatte deutlich, daß die Versammelten sehr unterschiedliche Erwartungen hegen. Die einen hoffen auf eine grundlegende Wende in der Stadtpolitik. Die anderen rechnen damit, daß mit einem rot-grünen Senat höchstens „SPD-Politik mit ein paar grünen Einsprengseln“ verwirklicht werden kann, wie es Harald Wolf, Mitglied des AL-Vorstands, ausdrückte. Und während die einen begeistert von der „Jahrhundertchance“ redeten, betonten andere, daß Wünschen alleine noch nie geholfen habe.

Die AL-WählerInnen hätten niemals mit einer rot-grünen Mehrheit gerechnet, sie hätten dem Diepgen-Senat einen Denkzettel verpassen und gleichzeitig eine starke Opposition wählen wollen. Mit diesen Worten kritisierte die AL -Aktvitistin Andrea Fischer, die zu den „undogmatischen Linken“ gezählt wird, diesen rauschähnlichen Zustand, in dem sich die AL seit dem Wahlabend bewegt. Darauf entgegnete Udo Knapp, der zu den wenigen AL-Realos zählt, solche Einschätzungen spiegelten mehr den Zweifel an der eigenen Politikfähigkeit wieder als die Stimmung in der Bevölkerung. Er verwies auf die große „Verantwortung, die die AL nun nicht nur für Berlin, sondern für die Reformmehrheit in der gesamten BRD übernommen“ habe, und plädierte dafür, „die Meßlatte deswegen nicht unnötig hoch, sondern so weit als möglich runter zu setzen“. Eine Aussage, die ihm allerdings wenig Beifall, dafür umso mehr Buh-Rufe eintrug.

Bernd Köppl, der zu der Berliner „Aufbruch„-Gruppe zählt, betonte, daß die Bedingungen für Rot-Grün heute sehr viel günstiger als noch vor vier Jahren seien: Die SPD, sagte er begeistert, habe sich in der Opposition verändert, um der AL Stimmen abzujagen, und sei mit einem sehr fortschrittlichen Wahlprogramm angetreten, weil sie an den Machtwechsel selbst nicht geglaubt habe: „Das ist eine hervorragende Ausgangsposition für uns. „Die SPD ist in der Opposition etwas ganz anderes als an der Regierung“, entgegnete Birgit Arkenstette vom AL-Vorstand, die ebenfalls zur Gruppe der „undogmatischen Linken“ zählt, und machte damit deutlich, daß auch die Lernfähigkeit der SPD innerhalb der AL sehr unterschiedlich beurteilt wird.

Doch die Versammlung wollte sich mit den vielen Schwierigkeiten, die die rot-grüne Perspektive mit sich bringt, an diesem Samstagnachmittag nicht befassen. So war es den Versammelten schon fast zuviel, als eine Gruppe um Ellen Olms und die künftige Bundestagsabgeordnete Siggi Fries einen Antrag einbrachte, der die Verhandlungskommission auf inhaltliche Forderungen gegenüber der SPD festlegen wollte.

Die Unruhe wuchs, als einer der Gruppe inhaltliche Forderungen aufzuzählen begann: „Wir wollen die Verhandlungen auch daran messen, ob in einzelnen Punkten ein Einstieg in Veränderungen erreicht ist.“

Siggi Fries betonte zwar, daß ihr Vorschlag keineswegs einen Tolerierungskatalog darstelle und daß sie kein Interesse daran hätten, „Hürden“ aufzubauen, um daran die Verhandlungen scheitern zu lassen. Doch das nahm ihr die Versammlung nicht ab. Der Vorschlag wurde mißtrauisch als Versuch beäugt, „mit Minimalforderungen, die letztlich Sollbruchstellen darstellen, wie in Hamburg etwas zu torpedieren“ - und prompt mit großer Mehrheit abgelehnt. Die Versammlung folgte dann dem Antrag des Vorstandes: Die Verhandlungskommission soll die Verhandlungen „auf Grundlage des Wahlprogramms führen“ und dabei „das Maximale herausholen“.

Auch die Kontroverse „Tolerierung oder Koalition“ wurde auf dieser Mitgliederversammlung nicht geführt. Gerade unter den „undogmatischen Linken“ ist die Präferenz für die Tolerierung eines SPD-Senats unverkennbar - weil sie glauben, daß die AL dann nicht so sehr für die Legitimierung von Regierungspolitik herhalten müsse. Die Realos und die Berliner „Aufbruch„-Gruppe ihrerseits haben nicht darauf gedrängt, die AL schon auf eine eindeutige Koalitionsaussage festzulegen. Mit dem Kompromiß können zunächst alle leben: Der Streit um Tolerierung oder Koalition wird erst entschieden, wenn das Verhandlungsergebnis auf dem Tisch liegt.

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