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Abschied vom „Ölscheichtum“ Norwegen

Die Wirtschaft des skandinavischen Landes befindet sich in voller Talfahrt / Arbeiterpartei steht im Wahljahr vor Rekord-Arbeitslosigkeit  ■  Von Reinhard Wolff

Eine Arbeitslosenrate von vier Prozent in einem Januarmonat! Was in der Bundesrepublik mittlerweile als unerreichbarer Tiefststand unvorstellbar erscheint, war auch in Norwegen vor einem Jahr noch kaum vorstellbar. Unter umgekehrten Vorzeichen allerdings: Mehr als 40 Jahre mußten die Statistiker zurückblättern, bis sie auf ähnlich hohe Zahlen stießen, nämlich bis in die Zeit unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges.

Obwohl der Januar traditionell der Monat mit den höchsten Arbeitslosenraten in Norwegen ist - ab Februar stellt die Fischindustrie wieder Saisonarbeitskräfte ein -, warnen Experten des Arbeitsmarktministeriums schon jetzt: die Zahlen könnten noch weiter steigen. Die Arbeitslosigkeit hätte im Januar schon bei sechs Prozent gelegen, wäre von der Regierung nicht im Dezember noch rechtzeitig ein neues Programm mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aufgelegt worden, das nunmehr die Statistik „verschönt“.

Was ist passiert im skandinavischen „Ölscheichtum“, das vor zwei bis drei Jahren von Wirtschaftsmagazinen noch zu dem Land der Zukunft hochgelobt worden war? Der „Ölpreisschock“ 1986 war's, ist die am häufigsten zu hörende Erklärung. Auf ständig steigende Öleinnahmen habe man sich in Oslo verlassen. Als die Ölpreise dann 1986 in den Keller gingen, stimmten alle hochgerechneten Zukunftserwartungen nicht mehr. Das Land hatte über ein Jahrzehnt lang ausschließlich auf die Felder draußen in der Nordsee gesetzt, die Festlandwirtschaft war vernachlässigt worden. Fischerei, Schiffsbau und die norwegische Schiffahrt hatten ihre besten Zeiten lange hinter sich, Holz- und Metallindustrie waren nicht rechtzeitig modernisiert worden und deshalb nicht mehr konkurrenzfähig, weil die Investitionsgelder vorwiegend in die Erdölfelder geflossen waren.

Allzuviel ist den regierenden Sozialdemokraten nicht eingefallen, um der sich ankündigenden Krise entgegenzusteuern. Die Krone wurde abgewertet, um mit dem fallenden Dollarkurs mitzuziehen. Der Effekt für den Außenhandel war minimal, weil die meisten Geschäfte sowieso auf Dollarbasis abgewickelt wurden. Dafür verteuerten sich die Einfuhren und drückten die um zehn Prozent liegende Inflationsrate weiter nach oben. Das Lohnniveau entwickelte sich branchenmäßig auseinander: Arbeitskräftemangel in der Ölindustrie und in qualifizierten Berufen führte dort zu hohen Lohnzugeständnissen mit jährlichen Lohnsteigerungen von bis zu 18 Prozent. In schlechter gehenden Branchen wurde dagegen wesentlich weniger bezahlt: hier sanken die Reallöhne. Sozialdemokratisches Rezept: ein Lohnstopp, der diese Verhältnisse auch noch zementierte.

Allzuviel ändern will die Regierung an dieser Politik des Stillhaltens offensichtlich nicht. Es sei nicht die Politik, sondern die ökonomische Wirklichkeit, die die Ursache der jetzigen Situation sei, formulierte Ministerpräsidentin Brundtland wenige Tage vor Bekanntgabe der neuen Zahlen. Man werde versuchen, weitere Bereitschaftsarbeiten zu finanzieren, und hoffe darüber hinaus auf gewisse Aufschwungtendenzen in der Bauindustrie durch die Winterolympiade in Lillehammer. Reichlich wenig angesichts der Verdoppelung der Arbeitslosigkeit binnen eines einzigen Jahres! Kurzfristig auf eine Verschönerung der Statistik in den nächsten Monaten scheint dies alles abzuzielen, ebenso wie die angekündigte Einziehung von mehr Rekruten.

Kurzfristige „Erfolge“ scheinen gefragt, denn es ist Wahljahr. Die Konservativen werden sich im Herbst zu einem großen Teil darauf beschränken können, Reden von Gro Harlem Brundtland von vor vier Jahren zu zitieren. Ob dies allerdings reichen wird, die Wähler zu überzeugen, ist mehr als fraglich. Denn auch von bürgerlicher Seite fehlt es an praktischen Rezepten. Mehr muß die Arbeiterpartei Unmut und letztendlich Wahlverweigerung aus den eigenen Reihen befürchten. Das Verhältnis der Regierung zu den Gewerkschaften könnte kaum schlechter sein, und der linke Parteienflügel kritisiert schon lange die thatcheristische Wirtschaftspolitik der Regierung Brundtland. Sie werfen ihr vor, die Versäumnisse der Vergangenheit - einseitige Bevorzugung des Ölsektors - durch bewußtes Inkaufnehmen einer höheren Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Absenkung des Reallohnniveaus kurzatmig statt langfristig zukleistern zu wollen. Das - traditionelle - Konzept des linken Arbeiterparteienflügels und der Linkssozialisten: stärkere wirtschaftspolitische Lenkungsinstrumente des Staates. Die internationalen Konzerne haben schon in den letzten Monaten gezeigt, was sie davon halten: Die Verlagerung von Produktionsteilen oder der gesamten Produktion aus Norwegen heraus hat sich verstärkt.

Vier Prozent Arbeitslosigkeit ist aber nur die statistische, die halbe Wahrheit. Hinter diesen Zahlen versteckt sich nicht nur ein Arbeitskräftemangel in bestimmten Großstadtregionen, sondern auch und vor allem eine teilweise zweistellige Prozentzahl von arbeitslosen Menschen in Nordnorwegen. Obwohl die Abwanderung nach Süden ständig neue Rekorde bricht, werden von den immer weniger Menschen immer mehr arbeitslos. „Nur“ ein regionales Problem oder Vorbote einer ganz Norwegen drohenden Entwicklung?

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