: „Kalte Aussperrung“ - Nichts für SPD-Richter?
Die Bundesanstalt für Arbeit stellt aufgrund anonymer Hinweise Befangenheitsantrag gegen sozialdemokratischen Richter / „Franke-Erlaß“ vor dem hessischen Landessozialgericht ■ Von Martin Kempe
Darmstadt/Berlin (taz) - CDU-RichterInnen sind rechtstreuer als solche mit SPD-Parteibuch. Dieser Meinung ist offenbar die Führung der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit unter Präsident Franke (CDU). Im Rechtsstreit um den sogenannten Franke-Erlaß während des siebenwöchigen Streiks in der Metallindustrie von 1984 hat jetzt der Anwalt der Bundesanstalt Antrag wegen Besorgnis der Befangenheit gegen den Richter am Landessozialgericht Hessen, Peter Becker, gestellt. Begründung: Becker sei aktives Mitglied der SPD.
Rechtsanwalt Michael Vial schöpft bei seinem Antrag aus trüben Quellen. Aufgrund anonymer Schreiben an die Bundesanstalt in Nürnberg und das Arbeitsamt Darmstadt wird behauptet, es habe Unregelmäßigkeiten bei der Besetzung des zuständigen 10.Senats des Landessozialgerichts gegeben. Das Präsidium des Landessozialgerichts in Darmstadt habe am 1.Dezember 1988 den Richter am Sozialgericht Gießen, Becker, in den 10.Senat des Landessozialgerichts gesetzt - an die Stelle der Richterin Mosiek-Urbahn, die - das ist ebenso gerichtsbekannt wie die SPD-Mitgliedschaft Beckers - das CDU -Parteibuch in der Tasche hat. Die anonymen Schreiben stammen von „um das Ansehen der Hess. Sozialgerichtsbarkeit besorgten Richter(n) des Landessozialgerichts“ bzw. von „alle(n) Richter(n) am Landessozialgericht, die (...) um das Ansehen der Hess. Sozialgerichtsbarkeit tief besorgt sind“. Dahinter steckt offensichtlich die Querele einer CDU -Seilschaft am Darmstädter Landessozialgericht.
Als Begründung für die Befangenheit des SPD-Mitglieds Becker führt BA-Anwalt Vial aus, die SPD habe seinerzeit mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß sie den „Franke-Erlaß“ für rechtswidrig halte. Konsequenz: „Es steht nunmehr zu befürchten, daß ein aktives und damit auch über diese Vorgänge informiertes SPD-Mitglied einem großen Erwartungsdruck dahingehend ausgesetzt ist, die Parteilinie zu wahren und deshalb als berichterstattender Richter nicht völlig unparteiisch und neutral mitentscheiden kann.“
Bei dem Rechtsstreit geht es um die Weigerung der Bundesanstalt für Arbeit, während des Streiks um die 35 -Stunden-Woche 1984 Arbeitslosen- bzw. Kurzarbeitergeld an mittelbar vom Streik betroffene, „kalt ausgesperrte“ Metall -Beschäftigte zu zahlen. BA-Chef Franke hatte 1984 per Erlaß verordnet, Arbeiter der Metallbranche, für die die Gewerkschaften gleichgerichtete Forderungen wie in den unmittelbaren Streikgebieten Baden-Württemberg und Hessen aufgestellt hatten, besäßen keinen Anspruch auf Lohnersatzleistungen, wenn die Unternehmer die Produktion wegen angeblich streikbedingtem Materialmangel einschränkten. Die Unternehmer konnten so Hunderttausende Metallarbeiter außerhalb der Streikgebiete wochenlang auf die Straße setzen und damit die Gewerkschaft unter Druck setzen.
Die IG Metall hatte seinerzeit kurz vor Beendigung des Streiks mit mehreren einstweiligen Verfügungen Recht bekommen und die Bundesanstalt zur Zahlung von Lohnersatzleistungen gezwungen. Nur so konnten damals die Arbeitgeber nach sieben Wochen Arbeitskampf von ihrer Konfrontationsstrategie abgebracht und gezwungen werden, einem Kompromiß über 1,5 Stunden Arbeitszeitverkürzung zuzustimmen. Diese Entscheidungen wurden später in der Hauptverhandlung von den Sozialgerichten, kürzlich in zweiter Instanz auch vom Landessozialgericht in Bremen, bestätigt. Zwei Jahre nach dem Streik hatte die Regierungskoalition den Franke-Erlaß durch eine Novellierung des Paragraphen 116 Arbeitsförderungsgesetz legalisiert.
Der stellvertretende IG-Metall- Vorsitzende Karl-Heinz Janzen bezeichnete den Antrag der Bundesanstalt gestern als empörend. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die Parteimitgliedschaft von Richtern völlig unerheblich. Die Hinzuziehung anonymer Schreiben beweise, auf welch tönernen Füßen die Behauptungen der Bundesanstalt stehen.
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