Die Sowjets sind weg - der Krieg geht weiter

■ Heute ist nach dem Genfer Afghanistan-Abkommen der Stichtag für den Abzug aller Besatzungssoldaten

Der allerletzte Rotarmist soll zwar erst heute Punkt 12 Uhr mittags Afghanistan verlassen. Aber die Moskauer 'Komsomolskaja Prawda‘ wußte schon gestern, daß die Nachhut aus den „Besten der Besten“ besteht. Im gebirgigen Salang -Gebiet seien die abziehenden Truppen noch einmal von den Mudschaheddin angegriffen worden, dann aber glücklich über die Grenze gelangt.

Einer nach dem anderen verließen die noch verbliebenen sowjetischen Soldaten das afghanische Terrain. Am Montag war es der Gefreite Wytscheslaw Rjabinin, der laut 'Tass‘ als „letzter“ Soldat die afghanische Hauptstadt Kabul verließ, gestern wurde gemeldet, Oberbefehlshaber Oberst Gromow habe Schlag zwölf als letzter Afghanistan hinter sich gelassen. Zuvor seien den afghanischen Regierungstruppen 23 sowjetische Militärlager übergeben worden. Die Einrichtung und das Gerät, das sie enthielten, haben angeblich einen Wert von umgerechnet 40 Millionen Mark.

Doch nach dem Abzug der allerletzten bleiben immer noch welche. Die UdSSR, so gab Oberst Gromow bekannt, wird „mehrere hundert Personen“ in Kabul belassen, zu denen „Botschaftsangehörige, Zivilisten und andere“ zählen. „Wir werden besondere Vorkehrungen treffen“ sagt einer, der nach der neunjährigen Schlacht der Rotarmisten gegen den von Washington und Saudi-Arabien unterstützten Widerstand, mit gemischten Gefühlen zurückbleibt.

Eine neue Landebahn

Sämtliche verbleibenden Sowjetbürger werden sich in einer Siedlung im Südwesten der Stadt verschanzen. Wieviel Schutz letztendlich deren Mauern und die doppelten Botschaftswände bieten werden, bleibt abzuwarten. Die neue, erst vor wenigen Wochen angelegte provisorische Landebahn, der die Baumbestände entlang der angrenzenden Prachtallee zum Opfer fielen, soll offenbar der zweimotorigen Propellermaschine Antonow 36 genügend Platz zum Starten und Landen bieten, um auch die restlichen Sowjetbürger im Notfall schnell zu evakuieren. Böse Zungen behaupten, die Sowjets hätten sie sich pflastern lassen, um Szenen wie die beim Abzug der GIs aus Vietnam zu vermeiden, als in Saigon Amerikaner per Helikopter von den Dächern evakuiert werden mußten.

Ein westlicher Diplomat äußerte sich allerdings skeptischer: „Die Maschine wird landen und entweder im Schlamm oder im aufgeweichten Asphalt versinken und keinen Zentimeter mehr weiter kommen. Möglicherweise wird die Sowjetunion doch Hubschrauber einsetzen. Mit den neuen übergroßen Helikoptern könnten sie es vielleicht bis zur Grenze schaffen.“

Die Frage ist, wer sind diese „anderen“ Sowjetbürger offensichtlich Soldaten - die neben Diplomaten und Zivilisten weiterhin in Kabul bleiben. Ein Sprecher der sowjetischen Botschaft erklärte, die Männer seien abgestellt, um die sowjetischen und afghanischen Flugzeuge zu bewachen, die fast täglich „Nahrung und Treibstoff“ in die Hauptstadt brächten. Diese Luftbrücke werde für unbegrenzte Zeit fortgesetzt, fügte er hinzu.

Unterdessen unternimmt die afghanische Regierung offenbar alle Anstrengungen, um die in den letzten Wochen bewaffneten Mitglieder der Regierungspartei PDPA nun auch in die bestehenden militärischen Formationen zu integrieren. In Zukunft sollen sie dieselben Vorrechte genießen wie die Angehörigen der Streitkräfte .

Aber auch unter den Mudschaheddin-Kommandeuren versucht das PDPA-Regime seinen Einfluß auszubauen. Offenbar rechnet sich die Regierung neue Chancen aus, nachdem die Mudschaheddin -Anführer in den vorbereiteten Gesprächen zu ihrer „Schura„ -Versammlung in den letzten Tagen mit ihren Einigungsversuchen bisher kläglich gescheitert sind. Auch auf der gestrigen ersten Vollsitzung der „Großen Versammlung“ gab es keine Fortschritte. Nadschibullah hofft jetzt, sich den Zwist zwischen den schiitischen und sunnitischen Mudschaheddin-Gruppen zunutze zu machen. Wiederholt hat der afghanische Rundfunk den Mudschaheddin angeboten, ihnen die schweren Waffen abzukaufen und für sie Plätze in der neuen afghanischen Regierung zu reservieren.

Vorwürfe gegen Pakistan

Auch die seit vergangen Donnerstag andauernden verbalen Angriffe gegen Pakistan setzt der Regierungssender mit unverminderter Heftigkeit fort. Er verurteilt angebliche Pläne Pakistans, eine Staatenkonföderation mit Afghanistan anzustreben (das durch den langen Krieg geschwächt ist und leicht zu dominieren wäre) und beschwert sich über Truppenkonzentrationen jenseits der pakistanischen Grenze die von der anderen Seite natürlich dementiert werden.

In die pakistanische Grenzstadt Kotal sollen, so meldet 'Tass‘, 1.600 Soldaten der pakistanischen Armee und 200 Stammesmilizionäre sowie weitreichende Artillerie gebracht worden sein, rund 320 Soldaten mit 30 Kampffahrzeugen seien in anderen Grenzstädten stationiert worden. In der Grenzstadt Shalman gewähre ein Artilleriebataillon den Aufständischen Feuerschutz, meldet 'Tass‘. Und daß, wie in Moskau ebenfalls behauptet wird, auch französische und amerikanische Berater bei der Planung von Angriffen helfen, ist nicht unwahrscheinlich. Schließlich hat US-Präsident Bush offiziell angekündigt, die Mudschaheddin weiterhin bis zum Sturz der Kabuler Regierung - mit Militärhilfe zu bedenken.

Simone Lenz