piwik no script img

Todeskandidat auf fliegender Bombe

Psychologe der Technischen Universität Darmstadt erstellt Studie zum Tiefflug / Arbeit belegt „strukturelle Überforderungen“ der Piloten / Seit Bestehen der Bundesluftwaffe 687 Kampfflugzeuge abgestürzt  ■  Aus Bonn Gerd Nowakowski

Sein siebenfaches Körpergewicht lastet auf dem Piloten, als er die Kurve durchfliegt. Er jagt wie durch einen Tunnel, denn bei einer Geschwindigkeit von 800 Km/h ist sein Gesichtsfeld extrem eingeschränkt. Sein Puls ist bis auf 170 Schläge hochgeschnellt, gleichzeitig muß er eine Vielzahl von Handlungen vornehmen. Das ist zuviel für ihn: Am Ende der Kurve bohrt sich der Kampfjet in den Boden. Menschliches Versagen wie in 70 bis 90 Prozent aller Fälle wird konstatiert.

Winfried Mohr, Psychologe von der TU Darmstadt, kommt in einer Studie zu einem anderen Ergebnis: Tiefflugpiloten unterliegen einer „strukturellen Überforderung“, die aus den Piloten Todeskandidaten und aus den Jets fliegende Bomben für die Zivilbevölkerung machen.

Die „Handlungsdichte“ von Kampfflugzugpiloten, also die Häufigkeit, mit der Instrumente abgelesen oder motorische Handlungen ausgeführt werden müssen, kann 60 Handlungen pro Minute erreichen. Der Pilot muß handeln - trotz Gewichtsbelastung und eingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeit. Sämtliche Informationen müssen in extrem kurzer Zeit verarbeitet werden: Schließlich legt ein Flugzeug bei der vorgeschriebenen Tiefflug-Geschwindigkeit von 400 Knoten in der Sekunde 205 Meter zurück. Die Konsequenzen macht ein Beispiel deutlich: Bei einem horizontalen Flug in 150 Metern Höhe über einem mit fünf Grad leicht ansteigendem Gelände schlägt das Flugzeug nach achteinhalb Sekunden auf. Im „Leitfaden der militärischen Flugpsychologie“ wird aber von einer durchschnittlichen „Gesamtreaktionszeit“ der „Einheit Mensch-Flugzeug“ von sieben Sekunden ausgegangen, d.h.: Selbst bei absolut richtiger Verhaltensweise bleiben dem Piloten nur eineinhalb Sekunden, um den Aufschlag zu vermeiden. Fast 60 Prozent der Unfälle sind auf „verspätete oder nicht durchgeführte Reaktionen“ zurückzuführen. Zur Erinnerung: Seit Bestehen der Bundesluftwaffe sind insgesamt 687 Kampfflugzeuge über der BRD abgestürzt; seit 1973 allein 234 Jets der Alliierten.

Entscheidendes Problem ist das Einhalten der Flughöhe. In dieser niedrigen Lage - offiziell darf bis auf 75 Meter heruntergegangen werden - aber ist der Höhenmesser nur bedingt nutzbar. Die Höhenabschätzung erfolgt über Sichtwahrnehmung. Doch selbst bei günstigen Sichtbedingungen sieht ein Pilot wegen der Verzögerungszeit des Auges einen Gegenstand noch in zehn Metern Entfernung, wenn er diesen bereits erreicht hat.

Winfried Mohr, der sich fast ausschließlich auf militärische Forschungsergebnisse stützt, kommt zu dem Ergebnis, daß sich „die Zuverlässigkeit“ des Menschen kaum noch verbessern läßt. Er verweist auf den hohen Aufwand für die ergonomische (d.h. an die Arbeitsbedingungen angepaßte) Gestaltung des Cockpits sowie Auslese und Ausbildung der Piloten. So werden von 500 Bewerbern jährlich nur 30 akzeptiert. Auch die vom Verteidigungungsministerium aufgestellte Behauptung, die Bevölkerung müsse Tiefflüge aushalten, weil viel Training viel Sicherheit bedeutet, wird widerlegt. Die Hälfte aller Piloten, die kritische Situation überlebten, führten in einer Befragung „reines Glück oder Zufall“ für ihr Überleben an. Es wundert nicht, daß die Belastung Auswirkungen hat. „Ein nicht unerheblicher Teil der Piloten entwickelt im Laufe der Zeit somatische bzw. psychiche Beschwerden“, schreibt Winfried Mohr. Zwischen 1963 und 1970 mußten sich 396 Piloten einer psychologischen Untersuchung unterziehen; 103 mußten das Fliegen aufgeben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen