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In der Champagner-Stadt schäumt der Rassismus

Junger Franzose algerischer Herkunft in einer Bäckerei erschossen / SOS-Racisme organisiert einen Schweigemarsch  ■  Aus Reims Georg Blume

Reims ist wie eine Champagnerflasche. Irgendwer hatte die Stadt vorher geschüttelt. Der Korken schlug Ali ins Gesicht

-er war sofort tot. Jetzt quillt der Schaum aus der vergärten Stadt. Reims in Nordfrankreich hat den besten Champagner auf der Welt. So sagt man.

Ali, der Maurer, 23 Jahre alt, wurde von der Bäckersfrau Madame Garnier oder ihrem Sohn ermordet. In der Bäckerei waren Kunden arabischer Herkunft schon seit einiger Zeit unerwünscht. Vergangenen Sonntag in der Früh aber verstieß Ali gegen das ungeschriebene Gesetz und wollte bei Madame Granier Croissants kaufen... oder stehlen - wer weiß das heute noch! Ali wurde mit einer Kugel bedient. Reims ist eine stille Provinzmetropole. Alle hörten den Korken knallen. Seit Alis Tod schäumt der Rassismus über.

Ich kam aus Berlin nach Reims und habe nichts gegen Taxifahrer. Ich unterhalte mich immer mit ihnen. In Berlin hatte mein Taxifahrer vorgeschlagen, das „polnische Gesindel kleinzuschlagen, wie man es mit Ameisen macht, die an den eigenen Honigtopf wollen“. In Reims verkündete mein Taxifahrer, daß „wegen einem Araber weniger niemand in der Stadt schlechter schlafe“. Die Welt - des Rassismus - ist klein. Seine Zungen in Westeuropa lösen sich, auch dort, wo bisher alles in fester, wohlgefügter Ordnung schien. Zum Beispiel in Reims.

„Selbstverteidigung: Bäckerin erschießt kleinen Taugenichts“, titelte 'L'Union‘, die einzige Zeitung der Stadt, am Montag. Der Ton war angegeben. „Die Nachbarschaft ist solidarisch“, so schrieb man alsbald in großen roten Buchstaben auf die geschlossene Tür der Bäckerei Garnier. Am Donnerstag versammelten sich 500 Rechtsradikale - meist Kleinhändler - vor dem Justizpalast in Reims und skandierten: „Freiheit für Madame Garnier!“ Die Bäckerin war noch am Sonntag festgenommen worden.

Doch komisch: Die etablierten Politiker der Stadt wollten bis heute von der Affäre nichts wissen. Im Reimser Rathaus, wo die gaullistische Rechte seit dem Krieg - mit Ausnahme einer Legislaturperiode - unangefochten regiert, verweigert der Bürgermeister sich und seinen Unterstellten jede Aussage zu den Geschehnissen. „Die Rechtsradikalen waren in Reims nie besonders auffällig. Mit den Ausländern gab es keine großen Probleme. In Reims ist es weniger schlimm als anderswo“, meint der sozialistische Wahlkampfleiter. Weder er noch der politische Korrespondent der Pariser Tageszeitung 'Le Monde‘ in Reims, Didier Louis, können sich erinnern, wieviel Prozentpunkte Rechtsradikalenführer Jean -Marie Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr in Reims gewann. (Es waren 13 Prozent.) Didier Louis hat sich gar nicht erst für den Mord an Ali interessiert. „Wir sind stolz darauf, daß Reims für viele als Stadt des Luxus erscheint“, lautet ein Satz des gaullistischen Bürgermeisters.

Champagner ist Luxus. Mit Champagner hat sich Reims jahrzehntelang betrogen. Im Araberviertel hinter der Eisenbahnbrücke, weit vor den Toren von Reims, gibt es weder Champagner noch Luxus. „Allah beschütze Ali!“ steht hier an der Ladentür. Im Viertel wohnen sogenannte „Harkis“ und ihre Kinder, Algerier, die den französischen Kolonialherren nach dem Unabhängigkeitskrieg nach Frankreich folgten. Sie haben einen französischen Paß, doch äußerlich unterscheidet sie nichts von anderen Einwanderern nordafrikanischer Länder. Der aufkeimende Rassismus fällt nun auch auf sie zurück.

Ali stammt aus dem Viertel hinter der Eisenbahnbrücke. Alle seine Freunde wohnen hier, isoliert vom Rest der Stadt, zwischen Stahlbeton und den angrenzenden Feldern. Über ein Drittel der Jugendlichen ist arbeitslos, die Kriminalitätsrate ist hoch. Die Jugendlichen können tagsüber noch ins neu und viel zu spät gebaute Jugendzentrum gehen, abends und am Wochenende „treibt man sich um“. Abdel über die letzten Stunden von Ali: Es war nichts passiert, alles war wie immer: Whisky vom Supermarkt, viele Flaschen, bis Ali zur Bäckerei fuhr.

Hakem Achour arbeitet im Jugendzentrum des Viertels. Vor ein paar Monaten besuchte er einen Fortbildungskurs in Berlin. „Die Phänomene in Berlin und Reims sind die gleichen. Man hat uns in Ghettos gesteckt. Die Leute bekommen Angst, dort hinzugehen, wo sonst nur Türken oder Araber sind. In Reims traut sich niemand mehr von außerhalb in unser Viertel. Das ist eine Psychose.“

Trauer, Haß und Verzweiflung vermischen sich nach Alis Tod bei den arabischen Jugendlichen von Reims. Spontan verbrannten sie Ausgaben der Lokalzeitung 'L'Union‘ vor deren Redaktionsgebäude. „Sie haben uns den Krieg erklärt“, sagen die einen. „Wir wollen nur Gerechtigkeit. Wir müssen ruhig bleiben“, entgegnen andere. Währenddessen organisiert Hakem in Zusammenarbeit mit der in Frankreich inzwischen gut bekannten Anti-Rassismusorganisation „SOS-Racisme“ einen Schweigemarsch für Ali am heutigen Samstag. Der Generalsekretär von SOS-Racisme ist deshalb aus Paris gekommen. Er weiß, wie in einem solchen Fall, wie es in Frankreich in den letzten Jahren viele gab, Politik gemacht wird: „Wir dürfen jetzt nicht über den Rassismus polemisieren. Wir sind gegen die Gewalt, Ali ist das Opfer, und die Bäckerin oder ihr Sohn ist schuldig. Sie sind die Aggressoren und nicht wir. Das müssen wir rüberbringen.“ Alle Jugendlichen hören ihm zu und alle werden ihm folgen. SOS-Racisme genießt Autorität. Die professionelle Arbeitsweise macht die Hiflosigkeit vor Ort schneller vergessen.

Doch am Rande der Versammlung steht Messouda, die Schwester von Ali. Sie klagt schwerlich: „Die Polizei von Reims ist hundertprozentig rassistisch. Die Zeitung ist zu rechtsradikalen Thesen übergegangen. Die Justiz steht nicht auf unserer Seite, und sowieso will niemand in Reims über Rassismus reden. Was sollen wir machen?“ In einem Punkt hat Messouda allerdings unrecht. Im Fall Garnier heißt die Staatsanwältin Mademoiselle Datou-Saib. Sie ist die erste Französin nordafrikanischer Herkunft (auch kein Mann ihrer Herkunft schaffte es zuvor), die bisher in dieses Amt aufstieg, und sie war vergangenen Sonntag das erste Mal vollverantwortlich im Dienst. Zum Fall darf sie sich nicht äußern.

Reims, die offizielle Stadt, will diese Probleme nicht kennen. Nachdem Reims, die Korkenflasche, übergelaufen ist, wird man den rassistischen Beigeschmack, der sich nunmehr unter den Stadtchampagner gemischt hat, nicht bemerken. Bis der nächste Korken knallt.

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