: Die Sonne auf Kufen
In Tübingen gibt es ein Leben nach dem Eishockey ■ THEATER-DONNER
Die schwermütig-getragenen Melodiebögen von Edvard Griegs Morgenstimmung künden von einem großen Ereignis. Alkoholumnebelt sitzt die „Eisratte“ Brown am Rande einer öffentlichen Eisbahn im nächtlichen Montreal. Plötzlich geht die Sonne auf: die „Sonne auf Kufen“. Guy Lafleur, einer der Giganten des kanadischen Eishockeys, kurvt über die Bahn und schlappt lässig einen Puck in Richtung des fügsam bereitstehenden Eishockeytores. Doch ausnahmsweise trifft Lafleur nicht genau, der Puck prallt von der Latte ab und knallt dem darob noch benebelteren Brown an den Kopf: Beginn einer kanadischen Männerfreundschaft.
Schauplatz dieser Begegnung der herzlich-rauhen Art ist eine Bühne, auf der die für Kinder und Jugend zuständige Abteilung des Landestheaters Tübingen (LTT) das Stück Life after Hockey von Kenneth Brown darbringt.
In Kanada ein Stück über Eishockey zu inszenieren, ist keine sonderliche Kunst. Die Kanadier sind im wahrsten Sinne des Wortes eishockeyverrückt. Die „Hall of Fame“, die Ruhmeshalle der Hockeyheroen, ist ihnen Olymp und siebter Himmel zugleich, wer dort einmal Einzug gehalten hat, ist allem Irdischen entwachsen. „Eishockey ist eine nationale Obsession, etwas, was tief im kanadischen Charakter verwurzelt ist“, sagt Autor Brown, der sich selbst mit seiner Eisratte ein dramatisches Denkmal gesetzt hat.
Das Stück erzählt die Geschichte eines Mannes, der mit Haut und Helm dem Hockey verfallen ist, ihm als Jugendlicher dennoch entsagt, vom visionären Lafleur neue Motivation empfängt und sich schließlich in das Trikot von Mike Bossy träumt. Bossy war es, der 1984 im Canada-Cup gegen die UdSSR mit seinem Tor zum 3:2 in der Verlängerung den Kanadiern die endgültige Gewißheit verschaffte, daß nichts in dieser Welt ihrem Eishockey gleichkommt. Jenes Tor, dessen Choreographie jeder männliche Kanadier, der älter ist als sechs Monate, im Schlaf nachvollziehen kann, steht im Mittelpunkt des Stückes.
Kein Wunder, daß die Geschichte von der Eisratte auch den unmittelbar Betroffenen großartig gefiel. Die Spieler der Edmonton Oilers marschierten geschlossen ins Theater, und Wayne Gretzky, der beste Eishockeyspieler der Welt, der im Stück als Nummer 99 vorkommt und aus dem Off zu Sphärenklängen quasi-göttliche Eingebungen verstreut, war so angetan, daß er die entsprechenden Passagen selbst auf Band sprach und für künftige Aufführungen zur Verfügung stellte.
In Tübingen spielt Wayne Gretzky nicht mit, dafür aber Klaus Cofalka-Adami, dem die Rolle der Eisratte auf den Leib geschrieben scheint und der als ehemaliger Eishockeyspieler die Schlittschuhe ebensogut im Griff hat wie seine Gesichtszüge. Das zehnjährige Eisrättlein, das unbeholfen über den zugefrorenen See schliddert, verkörpert Cofalka ebenso überzeugend wie den sympathischen, breit grinsenden, kaugummikauenden Phantasten, der so gern Mike Bossy wäre. Seine Schauspielkunst sorgt, assistiert von einem überzeugenden Ensemble, vor allem dafür, daß der Sprung aus der Weite der kanadischen Prärie mitten ins beschauliche Tübingen nicht im Abseits endet.
In Deutschland ist es nämlich durchaus eine Kunst, ein Stück über Eishockey zu inszenieren. Dinge, die jedem Kanadier im Blut liegen, müssen hier erst erklärt werden; was jedermann im Lande des Ahorns als tiefe Lebensweisheit erscheint, kommt hier leicht als peinliches Pathos heraus. Eine einfühlsame Regie und eine ausgeklügelte Dramaturgie, die dem Schwulst meist mit Ironie zu Leibe rücken, umschiffen jedoch alle Klippen der Seichtigkeit.
Auch das Problem mangelnden Fachwissens wird entschlossen angepackt. Regisseur Zielinski stellt Browns Stück kurzerhand einen Herrn im Streifenhemd voran, der zu flotten Trommelrhythmen und monotonen Erklärungen das ganze Gestenrepertoire eines Eishockeyschiedsrichters demonstriert, was schließlich in ein furioses regelkundliches Ballett mündet. Eine Eröffnungszeremonie mit der sowjetischen und kanadischen Hymne sorgt für die gebührende Feierlichkeit, und in einem Punkt haben die Tübinger ohnehin Oberwasser: während die Schauspieler in Kanada - welch Frevel - Rollschuhe trugen, wartet die LTT -Crew mit einem aufwendigen Spezialbelag auf, der echtes Schlittschuhlaufen ermöglicht. Dagegen verblaßt selbst die Stimme von Wayne Gretzky.
Matti
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