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ZK berät neue Verfassung

■ Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei diskutiert Ausrichtung der neuen Verfassung / Kontroverse um „sozialistische Gesellschaft“ als Staatsgrundlage

Budapest (afp) - Eine Woche nachdem Ungarn die Einführung des Mehrparteiensystems beschlossen hat, trat das Zentralkomitee der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei USAP am Montag erneut in Budapest zusammen, um über die Ausrichtung der neuen Verfassung zu beraten, die an die Stelle der derzeit geltenden stalinistisch orientierten Verfassung des Jahres 1949 treten soll. Die neue Verfassung soll die Grundlage für einen Rechtsstaat in Ungarn schaffen, der die Freiheit durch Gesetze garantiert. Dies geht aus dem von Expertenkommissionen unter der Leitung des als progressiv geltenden Justizministers Kalman Kulcsar in den letzten Monaten erarbeiteten Entwurf hervor.

Dem ehemaligen ungarischen KP-Chef Kadar ist mit dem Vorsitz der Plenarsitzung des ZK eine bemerkenswerte Rückkehr auf die politische Bühne des Landes gelungen, meldet 'afp‘. Kadar war im vergangenen Mai von Grosz an der Spitze der Partei abgelöst worden und hat sich seitdem faktisch im Ruhestand befunden. Ein Ergebnis der ZK-Sitzung lag bis Redaktionsschluß noch nicht vor.

Nach Angaben des Justizministeriums in Budapest gilt die Schaffung eines Präsidentenamtes anstelle des derzeitigen Präsidialrates (einer kollektiven Präsidentschaft) als eine der hauptsächlichen Neuerungen des Entwurfes. Den gleichen Angaben zufolge soll dieser „Präsident der Republik“ ein unabhängiges Staatsoberhaupt sein, dessen Rolle jene eines Garanten für die Gewaltentrennung ist. „Die Macht des Parlaments kann keine unbegrenzte sein, auch dann nicht, wenn sie direkt - also in Form einer Volksabstimmung ausgeübt werden kann“, hatte Kulcsar am Donnerstag bei der Vorstellung des Entwurfes vor einer parlamentarischen Kommission betont.

Die Gesetzgeber hätten sich vom französischen Modell der Präsidialrepublik inspirieren lassen. Sie beabsichtigten eine völlige Trennung der Legislative von der Exekutive und der Judikative mit der Schaffung eines Verfassungsgerichtshofes und Verwaltungsgerichtshöfen, so ein dem Justizministerium nahestehender hoher Beamter.

Im Zentrum der derzeit über den Verfassungsentwurf geführten politischen Diskussion steht der Stellenwert, den die neue Verfassung der Definition des Systems einer „sozialistischen Gesellschaft“ als Grundlage des Staates einräumen soll. „Die neue Verfassung wird das System der sozialistischen Gesellschaft beinhalten müssen, und die Parteien werden ihre politischen Funktionen auf sozialistischer Grundlage wahrnehmen müssen“, hatte Parteichef Karoly Grosz nach dem entscheidenden ZK-Plenum vom 10. und 11. Februar erklärt. Diese verfassungsmäßige Regel werde „ganz einfach“ die Bedingung der legalen Existenz der Parteien darstellen, hatte er hinzugefügt.

Diese Interpretierung ist diese Woche von den unabhängigen Bewegungen zurückgewiesen worden, die den Sozialismus nicht in der Verfassung verankert sehen wollen. In einem Interview des Parteiorgans 'Nepszabadsag‘ hatte Kulcsar in nuancierterer Formulierung als Grosz angegeben, diese „kontroverse Frage“ sei „nicht entschieden worden“. Alle Seiten seien darüber einig, daß das vorherige sozialistische Modell nicht in die neue Verfassung eingehen könne, meinte er. Er wies darauf hin, daß ein neues „authentisches“ Modell einer sozialistischen Gesellschaft bisher noch nicht definiert worden sei. Eine einfache Erklärung über den sozialistischen Charakter der Gesellschaft, ohne dabei die genauen Regeln festzulegen, würde zu Interpretationsfehlern führen.

Der vom ZK zu billigende Entwurf wird anschließend dem Parlament vorgelegt. Danach soll eine Volksabstimmung vor Anfang 1990 über diesen Entwurf entscheiden.

Den Verfassungsentwurf wird ZK-Sekretär György Fejti vorlegen, der als ein liberaler Politiker gilt, der dem dem Reformflügel der Partei vorstehenden Staatsminister und Politbüromitglied Imre Pozsgay nahesteht.

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