: Schuld ist immer die Presse
■ Ein Gespräch im Hause Ernst Reuter über den anwesenden Herrn Diepgen
Das Haus an der Straße des 17. Juni trägt seinen Namen, seine Büste steht blumenbekränzt im Entree, vor dem die dunklen Dienstwagen aus aller Herren Bundesländer aufgereiht waren, seine Persönlichkeit und seine Politik sollten die Diskussion inspirieren, zu der sich gut 150 graublaunadelgestreiften Vertreter des Hauptausschusses des Deutschen Städtetages gestern abend vor prominentem Podium versammelt hatten: „Ernst Reuter, ein Bürgermeister macht Geschichte - Politische Führung und persönliche Verantwortlichkeit in der Parteiendemokratie.“ Aber Ernst Reuter blieb nur historisches Zitat im Munde Eberhard Diepgens, der die Diskussion leitete. Er war gleichzeitig unausgesprochen zentraler Gegenstand der Diskussion unter der Fragestellung, warum es heute keine charismatischen Führungspersönlichkeiten wie Reuter in der Politik mehr gibt, warum der Vertrauensverlust in die Politiker und die Glaubwürdigkeit so abgenommen haben, warum politische Entscheidungen im Gezerre und Geschiebe der verschiedenen Einzel- und Gruppeninteressen nicht mehr in Handeln umzusetzen sind.
Im letzten Punkt stimmte Diepgen durchaus mit CDU-Vordenker Kurt Biedenkopf überein, der die widerstrebenden Anforderungen an die politische Führung in der „Wohlstandsdemokratie“ analysierte: Forderung der Bürger nach Führung, Orientierung und Perspektive in der komplexen „Neuen Unübersichtlichkeit“, gleichzeitig aber erhöhtes Bedürfnis, mit seinen Eigeninteressen in der Politik zu partizipieren: „Da wird“, so Biedenkopf, „ein Wunder erwartet“. Diepgen nickte. Fast aggressiv reagierte er dagegen auf 'Zeit'-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff und den Hannoveraner Oberbürgermeister Herbert Schmalstieg, die die Diskussion zwangsläufig auf die sinkende Attraktivität der Politik, und den Vertrauensverlust in der Bevölkerung durch die ständig neuen Korruptionsskandale brachten, obwohl Gräfin Dönhoff taktvoll Diepgens eigene Skandale nie erwähnte, sondern die Barschel- und die Libyen-Affäre als Beispiele nannte.
Die Warnung des Politologen Richard Löwenthal, dieses dauernde „Verschweigen, verschweigen, verschweigen“ nicht zu bagatellisieren, kehrte der Noch-Regierende in geradezu atemberaubender Unbelehrbarkeit gegen die Presse, über deren Kontrolle er ja schon in der Vergangenheit laut nachgedacht hat: Die Presse sei es, die „zusätzliche Probleme“ für die politische Führung schaffe. Die Medien berichteten immer nur, „daß wieder Mist gemacht worden ist. Warum wird nicht mal dargestellt, wenn etwas richtig gemacht worden ist?“ fragte Diepgen, der doch in der Stadt 80 Prozent der Zeitungen hinter sich weiß.
Die Forderung Dönhoffs nach „neuen Wertmaßstäben“, die die Gier nach Geld und nach Karriere in den „riesigen Bürokratieapparaten“ ersetzen - auch hier war Diepgen nicht angesprochen, aber gemeint - löste beim Regierenden keine Reflexion aus. Zwei Anmerkungen Biedenkopfs mögen ihm eher liegen. Der kleine Professor konterte Dönhoffs Korruptionsthese: Man müsse die Zahl solcher Vorkommnisse im Zusammenhang mit der politischen Gesamtleistung sehen - und „dann sieht das in der Bundesrepublik ganz gut aus“. Wirkliche Führungsqualität zeige sich in der Krise und zeichne sich dadurch aus, daß ein Politiker „für seine langfristigen Überzeugungen eintritt - auf das Risiko der eigenen Abwahl“. Fraglich ist, ob Diepgen sich damit trösten kann, daß er, „wenn sich diese Überzeugungen später als richtig erweisen, höchste Anerkennung in der Bevölkerung finden“ wird, wie Biedenkopf als Hoffnung formulierte.
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