: Hare/Niemeyer schafft neue Mehrheiten
■ AL, SPD und WUB wollen in Zehlendorf absolute Mehrheit der CDU brechen - durch anderes Zählverfahren
„Wir wählen uns unser Wahlverfahren selber!“ Nach diesem Motto beschlossen SPD, WUB und AL in Zehlendorf gestern das Bezirksamt durch ein anderes Zählverfahren zusammensetzen, als es vorgesehen war. Dabei würde die CDU einen Stadtratsposten verlieren, die AL einen Posten gewinnen. Bei dem in Berlin üblichen und für die Zusammensetzung der Bezirksverordnetenversammlung und deren Ausschüssen auch gesetzlich vorgeschriebenen d'Hondtschen Höchstzählverfahren bekommt die CDU nämlich auf Bezirksamt-Ebene vier Stadträte, die SPD zwei und die „Wählergemeinschaft Unabhängiger Bürger“ (WUB) einen Stadtratsposten, die AL keinen.
Nun entdeckten SPD, AL und WUB aber eine Gesetzeslücke, anhand derer sich nach Auffassung der drei Parteien ein Präzedenzfall schaffen ließe. Wie sich das Bezirksamt zusammensetzen solle, stünde nämlich nicht im Gesetz, erklärten sie gestern vor der Presse. Also, folgerten sie, könnte man auch nach dem in vielen Bundesländern praktizierten Hare/Niemeyer-Verfahren die Stadträte besetzen. Im Gegensatz zum d'Hondtschen Höchstzählverfahren, das stets die größeren Parteien bevorzuge, sei dieses System sowieso demokratischer.
Es ginge jedenfalls nicht an, so der SPD-Kreisvorsitzende Nikolaus Sander, daß die CDU, die zum ersten Mal seit 20 Jahren die absolute Mehrheit im Bezirk verloren habe, im Bezirksamt immer noch über mehr Posten verfügt als die anderen Parteien zusammen. In der Bezirksverordnetenversammlung haben SPD, WUB und AL zusammen 23 Sitze, die CDU besetzt die restlichen 22. Zehlendorf ist der einzige Berliner Bezirk, in dem die „Republikaner“ nicht ins Bezirksparlament eingezogen sind.
Die BVV soll nach Meinung der drei, die ausdrücklich betonten, es handele sich nicht um eine „Koalition“, die gerechtere Lösung wählen. Der AL-Vertreter Gerdes Ihnken beteuerte gestern, daß die AL dem Vorschlag auch zugestimmt hätte, wenn ihr damit nicht der siebte Stadtratsposten zufallen würde. Politisch käme es der AL darauf an, gemäß dem Wahlergebnis die absolute Mehrheit der CDU im Bezirksamt zu brechen.
Michael Simon, Fraktionsvorsitzender der WUB, sah ebenfalls in den veränderten Mehrheitsverhältnissen „bessere Möglichkeiten einer ausgewogenen, parteiunabhängigen Arbeit im Rathaus Zehlendorf“. Ob seine Fraktion dem Geschäftsordnungsantrag zustimme, könne er aber verbindlich erst nach einer Mitgliederversammlung der WUB am 28.2. sagen. Die konstituierenden Sitzungen der Bezirksverordnetenversammlungen finden am 2.März statt.
Zwar hatten die Parteien vor ihrem Überraschungscoup kein Rechtsgutachten anfertigen lassen, allerdings aber die Juristen in ihrer Partei konsultiert. Die berufen sich unter anderem auf ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin zu einer Pattsituation, die vor vier Jahren im Bezirk Steglitz entstanden war. Es ging damals darum, ob ein Stadtrat der CDU oder der AL zustehe. Das Gericht war damals der Ansicht, über das Wahlverfahren sollten sich die Betroffenen selbst einigen.
Bezirksbürgermeister Kleemann (CDU), der von dem Vorhaben zum Zeitpunkt der Pressekonferenz noch nichts wußte, war gestern nicht zu einer Stellungnahme zu erreichen.
RiHe
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