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Der Islam trug viel zu Europas Aufklärung bei

Die Bindung an ihre Religion ist für viele Muslime wichtiger als die Zugehörigkeit an eine Nation / Zwar bedroht der Islam Renegaten mit dem Tode, doch erklären sich zahlreiche Probleme von Muslimen nicht aus ihrer Religion, sondern aus ihrer historischen Situation  ■  Von Fritz Steppat

Berlin (taz) - Im Westen sind wir erregt, weil ein Schriftsteller wegen seines Buches mit dem Tode bedroht wird. Aber schenken wir auch der Frage etwas Aufmerksamkeit, warum die Muslime erregt sind. Für viele ist bis heute die Bindung an ihre Religion wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer Nation, Klasse oder ähnliches. Der Islam definiert ihre Identität. Weithin wird die Welt, in der sie leben, von fremden Kräften bestimmt; als Eigenes bleibt ihnen neben der Familie beinahe nur noch ihre Religion. Ganz besonders gilt das für Muslime, die im Westen leben und hier unter dem zusätzlichen Druck der Ausländerfeindschaft stehen, die ihnen oft als Islamfeindschaft erscheint, zum Beispiel, wenn der muslimische Friedhof in Berlin geschändet wird.

Und dann wird ein Buch veröffentlicht, in dem der vom Islam herkommende Autor den Religionsgründer und die Heilige Schrift zu verunglimpfen scheint. Viele Muslime empfinden dies als Angriff auf das Zentrum ihrer Identität und reagieren entsprechend. (Auch westliche Christen haben vor kurzem, mit zum Teil gewaltsamen Aktionen auf einen Film reagiert, der nach ihrer Auffassung Christus verunglimpfte.)

Richtig ist, daß nach dem islamischen Recht der Renegat prinzipiell dem Tode verfällt. Das hängt damit zusammen, daß die Zugehörigkeit zum Islam viel stärker als beim Christentum auch Zugehörigkeit zu einer sozialen und politischen Gemeinschaft bedeutet; Abfall von der Religion wird als Verrat, als feindliche Wendung gegen die Gemeinschaft aufgefaßt. Deshalb wiegt es schwer, wenn extreme Gruppen des islamischen Fundamentalismus alle Andersdenkenden als Ungläubige verketzern: Sie sprechen ihnen damit das Lebensrecht ab. Doch das ist keineswegs der Mehrheitsstandpunkt der Muslime. Im Gegenteil: Es ist einer der Hauptvorwürfe gegen die Extremisten, daß sie mit ihrer Verketzerungstendenz den falschen Weg beschreiten.

Das islamische Recht ist nicht das starre, grausame System, als das es manchmal hingestellt wird; im Verlauf der Geschichte haben seine Gelehrten Regeln entwickelt, die erlauben, es höchst differenziert und flexibel anzuwenden. Hinsichtlich des Abfalls vom Islam vertreten die orthodoxen Gelehrten - bei vielen Unterschieden in Einzelheiten grundsätzlich etwa folgenden Stand:

1. Der Abfall vom Islam gehört nicht zu denjenigen Sünden, die unvermeidlich eine bestimmte Strafe nach sich ziehen; wenn der Renegat bereut, ist seine Reue zu akzeptieren.

2. Zuerst ist jedoch mit äußerster Genauigkeit zu untersuchen, ob überhaupt ein Abfall vom Glauben vorliegt. Dazu muß unter Anlegung der verschiedensten Kriterien festgestellt werden, ob die Glaubenssätze, gegen die sich der vermeintliche Renegat ausgesprochen hat, tatsächlich unzweifelhafte Gültigkeit haben und ob er sie tatsächlich leugnet.

3. Es ist die Möglichkeit eines Irrtums des vermeintlichen Renegaten in Betracht zu ziehen. Bemühen um wahre Erkenntnis ist auf jeden Fall verdienstvoll, selbst wenn es zum falschen Ergebnis führt.

4. Nach alledem sollte man in der Frage der Verurteilung einer bestimmten Person als Renegat äußerste Vorsicht walten lassen. Ein Jurist des 19.Jahrhunderts sagt: „Irrtümlich tausend Renegaten am Leben zu lassen, ist geringfügiger, als irrtümlich das Blut eines einzigen Menschen zu vergießen, der in Wirklichkeit Muslim ist.“

Das Gesagte bedeutet nicht, daß im Islam absolute Toleranz hinsichtlich abweichender Meinungen bestünde, völlige Meinungsfreiheit. Das gibt es auch innerhalb anderer Religionen nicht, sondern nur in einer säkularisierten Gesellschaft. Der Islam wäre jedoch nie zu der großen Weltreligion geworden, wenn er nur ein starres Denksystem anzubieten hätte, das keinerlei Freiheit gibt.

Im Verlauf der Geschichte hat sich gezeigt, daß die islamische Religion sehr weite Möglichkeiten zur Interpretation ihrer Lehren läßt. Vergessen wir nicht, daß die islamischen Gesellschaften im Mittelalter ein höheres intellektuelles Niveau erreicht hatten als das christliche Europa - ja, daß Übersetzungen der Bücher islamischer Gelehrter nicht wenig zu den Fortschritten in Wissenschaft und Denken beigetragen haben, die dann zur europäischen Aufklärung führten. Die Probleme, vor denen die Muslime heute stehen, sind nicht aus ihrer Religion zu erklären, sondern aus ihrer historischen Situation.

Der Autor ist Professor am Islamwissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin

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