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Untermieter im Weltbild

■ Es poltert an der Grenze zwischen Innen und Außen / Von Micky Remann

Im schlesischen Oels, Kaiserstraße 1b, hat es im Jahre 1919 nicht zu knapp gespukt. Die Mieter des heimgesuchten Hauses waren mit den Nerven völlig am Ende und reichten eine Klage auf Entbindung aus dem Mietvertrag ein, wie uns ein zeitgenössischer Beitrag in den „psychischen Studien, vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des Seelenlebens gewidmet“, mitteilt. Daraufhin nahm Gerichtssekretär Oerter das Spukhaus in amtlichen Augenschein:

„Wir hatten kaum die Räume betreten, als wir schon die verschiedensten Klopfgeräusche hörten. Besonders auffallend war das Klopfen im Holz der Bettwände und ein lautes Kratzen daran, das so klang, als ob ein großes Tier mit gewaltigen Krallen darüber fahre. Aus verschiedenen Ecken erklangen Kuckucksrufe, jedoch in einem so unendlich feinen Ton, daß eine Nachahmung durch Menschenstimme ausgeschlossen erschien. Dann erklangen die Töne einer Geige in der Tonleiter abwärts, und hinter den beiden Mädchen sahen wir, besonders wenn sie aus dem einen in das andere Zimmer gingen, einen etwa erbsengroßen Funken von bläulicher Farbe schweben.“

Zwölf Zeugen waren bereit, ähnlich Haarsträubendes zu Protokoll zu geben. Eine ganz andere Wirklichkeit vertrat allerdings der Hausbesitzer des Anwesens Kaiserstraße 1b. Er hatte seine Mieter im Verdacht, sich mit niederem Schabernack aus einem gültigen Mietvertrag stehlen zu wollen.

Welche Partei in dieser Mietsache siegte und mit welcher Begründung, erfahren wir leider nicht, wohl aber, daß sich bald der Breslauer Rechtsanwalt Dr. Erich Bohn mit einer Schrift (Der Spuk in Oels) zu Wort meldete, um „Licht in die dunkle Sache“ zu bringen und die Vorkommnisse „logisch und naturwissenschaftlich zu erklären“.

Er tat es mit dem Eifer der Einfallsreichen: Im Kamin und in der Waschküche des Hauses entfesselte er eigenhändig allerhand Geklapper, das auf schlichte Gemüter im Obergeschoß durchaus die gleiche Wirkung wie echter Geisterspuk hätte haben können. Womit für Dr.Bohn das Geheimnis gelüftet war: alles Schwindel.

Diesen Vorwurf wollte die schlesische Pro-Poltergeist-Partei natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Ihre Anhänger betonten, daß der Spuk von garantiert untadeligen Zeugen beobachtet worden war, womit sie seine Existenz für „bewiesen“ ansahen. (Nach der auch heute noch bestechenden Logik, daß nur ein Polizist oder General die erkenntnistheoretische Verläßlichkeit besitzt, ein Ufo zu sehen - bei allen anderen war's eine Halluzination.) Die eidesstattlichen Gewährsleute von 1919 waren: Amtsgerichtssekretär Oerter, Ziegeleiverwalter Fenze, Unterzahlmeister Opatz und Oberjäger Herzog.

Pustekuchen! Auch solch geballte Seriosität scheiterte an der materialistischen Naturphilosophie und ihrem saloppen Anwalt Erich Bohn - andernfalls die Oelser Vorgänge in unseren Schulbüchern als Wendepunkt der Physik gewürdigt werden müßten. Aber Bohn hatte ja ebenfalls „bewiesen“, daß das Kratzen seine natürliche Ursache in der Waschküche hatte und daß die „erbsengroßen Funken von bläulicher Farbe“ eine Halluzination des sehschwachen Amtsgerichtssekretärs Oerter waren. Dieser kontert allerdings mit dem Hinweis, daß er erstens mit seinem Augenarzt Dr.Landmann-Breslau die Möglichkeit der optischen Täuschung schon besprochen und ausgeschlossen habe und daß zweitens nämliche Funken noch von vier weiteren, mit kerngesundem Augenlicht gesegneten Zeugen gerichtlich bestätigt worden seien; und „damit aber, Herr Rechtsanwalt“, schreibt Oerter, der gesteht, dem „Lager der Okkultisten“ zum Triumph helfen zu wollen, „damit bricht Ihr Einwand, mein krankes Auge habe mir nur was vorgespiegelt, vollständig zusammen!“.

Was er dem Dr.Bohn ebenfalls anlastet, ist, daß er sich bei der Abkanzlung der Spukthese auf Aussagen eines Herrn Seidel stützte. Der jedoch, klagt Oerter, „war die allerungeeignetste Persönlichkeit, da er als Vorsitzender des Hausbesitzervereins naturgemäß im Banne von dessen wirtschaftlichen Interessen stand und in einem Mieter, der sich gegen die heiligen Rechte der Hausbesitzer auflehnte, den natürlichen Gegner sah“.

Hiermit sind wir beim Kern der Sache angelangt: dem Naturbegriff.

Vernunftmensch Dr.Bohn rückt dem Spuk mit jenen durch nichts zu ersetzenden „natürlichen“ Erklärungen der Wissenschaft zu Leibe und läßt sie vom Vorsitzenden des Hausbesitzervereins bestätigen, der aber „naturgemäß“ im Banne entsprechender Interessen steht, wie Amtsgerichtsrat Oerter bemerkt, der obendrein auf den „natürlichen“ Gegensatz zwischen Mietern und Vermietern verweist, welcher einem unvoreingenommenen Blick auf das „Rätselhafte, ins übersinnliche Spielende“ entgegenstehe.

Fazit: Es gehört zur Natur des Spuks, daß sich in ihm ein Streit über die Natur verbirgt. Darin liegt sein Schönes. Und dem Schönen wohnt stets etwas Wahres und Gutes inne. Natürlich. Wir haben unser Weltbild nicht erfunden, sondern gemietet, und solange die Hausbesitzer die Verträge schreiben, wohnt das Außergewöhnliche nur zur illegalen Untermiete im Universum, egal, wieviel Reichtum es auch zu bieten haben mag.

Es gibt nichts Esoterisches, was nicht auch im Traum stattfinden könnte. Wenn es das Esoterische nicht gibt, existieren dann auch Träume nicht? Wenn ich im Traum fliege, ist dann das Gesetz der Schwerkraft ungültig oder mein Traum? Esoteriker beziehen sich auf eine gesonderte Weisheit des „Inneren“, die von den Exoterikern, den Realisten des Äußeren, kategorisch geleugnet wird. Wenn die Esoteriker Recht haben, gibt es dann vielleicht gar keine Außenwelt?

Wenn es sich beim Esoterischen und Exoterischen um zwei miteinander konkurrierende Wahrheiten handelt, von der nur eine zutrifft: auf welcher Seite stehen dann wir als lebende Subjekte? Bewohnen wir einen weichen, randlosen Innen-Traum oder einen harten, undurchdringlichen Außen-Raum? Bleiben wir als Exoteriker auf ewig außen vor, oder sind wir Esoteriker auf ewig innen eingesperrt? Im ersten Fall kämen wir nie nach Hause rein, im zweiten könnten wir unser Haus nie verlassen.

Allerdings erfahren wir uns, also unsere Natur, täglich wechselnd mal in- und mal außerhäusig, mal magisch, mal logisch, mal im Traum und mal im Raum beziehungsweise halbe -halbe. Und den Unterschied zwischen „physisch und psychisch“ hat schon Georg Groddeck für so groß gehalten wie den „zwischen Rheinwein und Moselwein“. Das Pendeln zwischen den Weinsorten scheint zu funktionieren, egal ob wir alle paar Stunden für eine fundamental neue Weltsicht Partei ergreifen oder nicht. Vielleicht ist das Naive der ganzen Esoterikdiskussion die Aufrechterhaltung dieser Trennlinie. Vielleicht handelt es sich bei „Innen“ und „Außen“ nicht um zwei unterschiedliche Welten, sondern um zwei unterschiedlich zensierte Welten.

In dem Fall müßte es uns um die Aufhebung der Zensur gehen, um die Anstrengung, Komplexitäten in der Ökologie des Bewußtseins mit unserer spezifischen Verfaßtheit von Bewußtsein adäquat wiederzuspiegeln.

Seitdem man entdeckt hat, wie die Evolution der Natur mit immer komplexer werdenden Formen des Geistes gepaart ist, so Gregory Bateson, „hat man es überall dort, wo man auf jene Art von Komplexität stößt, im Grunde mit einem geistigen Phänomen zu tun - so materialistisch ist das“.

Die Zeit, da man allein auf esoterische Systeme angewiesen war, um komplexen geistigen Phänomenen eine Heimat zu bieten, scheint sich dem Ende zu nähern. Das Interesse an esoterischen Themen ist ein Indiz für die Erosion der immer unbrauchbarer werdenden Innen-Außen-Trennung.

Der Chaos-Mathematiker Ralph Abraham sagte auf einem Treffen zum Thema Extended Mind (Ausgedehnter Geist): „Jenseits der physischen Ebene können wir mit kognitiven Raum-Zeit-Strukturen rechnen, die etwas anderes sind als Engel, Elfen oder Poltergeister.“ Der Pflanzenphysiologe Rupert Sheldrake (der mit den morphogenetischen Feldern) stimmte zu und betonte, daß „Bewußtsein“ ein raumzeitliches Feld-Phänomen sei, das vom Gehirn empfangen und moduliert werde - und nicht, wie traditionell angenommen, im Gehirn enthalten sei wie die Suppe im Topf. Der Geomantiker John Steele berief sich auf das Bewußtsein der lebenden Erde, auf die Gaia-Psyche, und Terence McKenna, psychedelischer Rationalist, wies darauf hin, daß mit Hilfe von schamanischen halluzinogenen Drogen keine jener unterdrückten Formen des Wissens und des Erfahrens ein Geheimnis zu bleiben brauche.

Unabhängig von allen philosophischen Wahrheiten gibt es ein konkretes Unbehagen, über das esoterische Innere zu sprechen, dann nämlich, wenn es um das eigene geht. Meinen Traumgeistern gestatte ich nur selten, in der Gesellschaft von Bürostuhl und Straßenbahn die gleiche Stellung einzunehmen, die diese zu haben scheinen. Kurz: Meine Götter bleiben aus Schamesgründen zensiert. Wenn sie sich das nicht mehr bieten lassen, fangen sie an zu spuken.

Auf der anderen Seite betonen Freudianer und Reinkarnationstherapeuten, Psychosomatiker und Kundalini -Yogis in schöner Eintracht, welche Kraft- und Feuerwerke sich jenseits der Schammauer verbergen, die unser gehemmtes Bewußtsein umgibt. Uneinigkeit besteht nur über die Wege, die dort hin- und durchführen. Manche dieser Wege sind bekannt und sehr verblüffend, andere sind unbekannt und noch verblüffender. Der Psychologe William James vermutete Anfang des Jahrhunderts, nach zwanzig Jahren ziemlich frustrierender spiritistischer Studien, „daß diese Abteilung der Natur auf ewig auserkoren ist, verblüffend zu sein“.

Manche Untermieter widersetzen sich eben jeder Hausordnung. Insofern geht es nicht um die „Erklärung“ des Spuks, sondern um das Kennenlernen der freieren Dimensionen von Bewußtsein, die zur Ziet ähnlich stiefmütterlich behandelt werden wie die freieren Dimen sionen von Sex zur Zeit von Queen Victoria.

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