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„So war es, so war es nicht...“

■ Eine Nacherzählung der „Satanischen Verse“ von Salman Rushdie

Bernd Robben

Um die Diskussion über ein Buch, das kaum einer gelesen hat, dem man aber alles mögliche nachsagt, auf eine breitere Grundlage zu stellen, gibt der folgende Text im wesentlichen eine breit angelegte Nacherzählung des Romans. Auf Anmerkungen und Kommentare vor allem zu den Passagen, die für Muslime den Vorwurf der Blasphemie und für einige unter ihnen ein Todesurteil rechtfertigten, wurde weitgehend verzichtet. Dies sollte zukünftigen Arbeiten vorbehalten bleiben.

Vom Himmel fallen Kopfhörer, Plastikbecher, Duty-Free-Parfüm und Menschen. Zerfetzte Menschen und lebende Menschen. Der plötzliche Temperatursturz überzieht ihre Gesichter mit einer feinen Eiskruste, an ihren Ohren donnert die Luft vorbei. Zumindest zwei von ihnen leben noch, denn wenn man genau hinhört, dann hört man den einen, den im purpurroten Buschhemd, ein indisches Volkslied singen; der andere, der so krampfhaft seinen Bowlerhut auf den Kopf drückt, singt ein altes, englisches Kirchenlied. Ein Sängerwettstreit. Zwei Inder fallen aus einem explodierten Flugzeug, fallen aus zehntausend Metern Höhe auf die englische Insel hinunter und wollen sich gegenseitig übertönen. Volkslied gegen Kirchenlied, indisches gegen englisches Lied. Sie fallen aufeinander zu, sie treffen sich in der Luft, sie umklammern sich, Kopf an Bein, Bein an Kopf und halsüberkopf. Sie fallen, sie sterben. Doch heißt es, jedem Anfang wohne ein Ende inne, und so verwandeln sie sich und werden neu geboren. „To be born again“, so denn auch der erste Satz in dem Roman, über den jeder spricht und den kaum einer kennt, „you first have to die.“ Da liegen sie, bewußtlos vom Aufprall ihres unfreiwillig freien Falls, am englischen Kreidefelsenstrand, nicht weit von der Stelle, an der auch Wilhelm, der Eroberer, landete. Der im roten Buschhemd, das war Gibreel Farishta, der berühmte Schaupieler, der unter dem Bowlerhut nannte sich in England Saladin Chamcha, seines Zeichens Stimmenimitator. Was werden sie sein, wenn sie aufwachen? Welche Metamorphosen durchfällt man auf dem Weg vom Himmel zur Zwischenstation Erde? Emigration und Immigration

In den Satanischen Versen, das dürfte viele Leser überraschen, ist der Islam keineswegs zentrales Thema. Es ist ein Roman, in dem sich Rushdie zum ersten Mal der politischen Situation in seinem gegenwärtigen Heimatland England zuwendet, nachdem er zuvor über Indien, Pakistan und Nicaragua geschrieben hat. Den schwierigen Bedingungen der Einwanderer, der Ausländer geht er nach, hinterfragt die Bedingungen der Identität in der Fremde, klagt Haß, Mißverständnisse und Rassismus an und liefert eine der bissigsten Beschreibungen von „thatcherite„-England, die sich überhaupt in der britischen Literatur finden läßt. Um jemanden wie Rushdie verstehen zu können, der in Indien geboren, in England aufgewachsen ist und dessen Eltern in Pakistan leben, müsse man, so hat er einmal gesagt, eine ganze Welt verschlingen. In seinen Romanen erzählt er von diesen anderen Welten. Geschichten um Geschichten verweben sich in ihnen zu einem Text-Teppich, in dem sich die einzelnen Fäden oft verlieren, dessen Farbenpracht und üppige Bilder man jedoch so schnell nicht vergißt.

Solange Gibreel Farishta und Saladin Chamcha bewußtlos am Strand liegen, hat der Leser Zeit, sie sich ein wenig näher anzusehen. Saladin Chamcha, der eigentlich Salahuddin Chamchawala heißt, war schon als Kind stolz auf seine blasse, fast weiße Haut. Man konnte kaum einen Unterschied zu den Farangis, den Engländern, erkennen, und das war sein höchstes Glück. Denn wenn er traurig war, dann half ihm sein geheimes Mantra, dann flüsterte er die Buchstaben reinster Seligkeit: Eloendeoen, Eloendeoen, der Name der Stadt seiner Wünsche und Hoffnungen. Mit vierzehn wurde sein Traum Wirklichkeit, und man schickte ihn, wie auch seinen Autor Rushdie, ins Mutterreich der Commonwealth-Kultur auf ein Internat. Es war nicht leicht, aber er paßte sich an. Zuerst in der Kleidung, dann im Verhalten; später kamen dann der richtige Akzent und die dazu passende Frau. Mit dem hübschen, etwas mürrischen, altväterlichen Gesicht setzte er das i-Tüpfelchen auf das Bild des vollendeten Gentleman. Nichts konnte ihn erschüttern, doch krampfte sich alles in ihm zusammen, wenn er einen seiner ungehobelten, radebrechenden Landsleute mit ihrer aufdringlichen Freundlichkeit sah. Aber es waren nicht mehr seine Landsleute. Er war Engländer, ganz und gar. Er wäre nie nach Indien zurückgeflogen, hätte ihn sein kranker Vater nicht darum gebeten. Doch kaum in Bombay, schleicht sich ein indischer Akzent in sein Oxbridge-Englisch. Und warum hatte er sich gleich am ersten Tag in eine Inderin verliebt? Wirkte sein Rückflug nach London nicht beinahe wie eine Flucht? Lag um seine Lippen nicht ein zu freundliches Lächeln, war ihm nicht sein britisches Gesicht entglitten?

Auch Gibreel Farishta (d.h. Gabriel, der Engel) lebt bereits unter seinem zweiten Namen. Er hat geschafft, wovon fast jeder Junge in Indien träumt. Er war eines der Straßenkids in Bombay und wurde zum gefeiertsten Filmstar des Subkontinents. Seine Karriere begann, als man die religiösen Themen fürs Kino entdeckte, und auf dem Zelluloid hat er schon beinahe jeden der hinduistischen Götter verkörpert. Er hält sich für den Liebling des Himmels, aber als er Allah darum bittet, er möge ihm seine Gunst durch ein persönliches Zeichen bestätigen, schweigt Allah. Gibreel wird krank, Gibreel stirbt beinah, doch Allah schweigt. Da verliert Gibreel seinen Glauben, wird wieder gesund, läuft ins nächste amerikanische Hotel und schüttet sich Schweinekrusten und Wein in den Rachen, aber nichts passiert. Oder doch. Er blickt auf, der Wein schwappt ihm aufs weiße Hemd, und Gibreel verliebt sich. Die Schöne, die ihn bei seinen Exerzitien beobachtet, ist Engländerin, Bergsteigerin. Sie ist die Höhen gewohnt und sie nimmt es mit dem abtrünnigen Göttergünstling auf. Für Gibreel Farishta ist Klappe, Schnitt. Mit der nächsten Maschine fliegt er seiner Göttin hinterher ins immernasse, immerkalte Herz der englischen Welt, nach Eloendeoen. Die Macht der Beschreibung

Aber für die beiden Gefallenen ist es Zeit aufzuwachen. Gibreel kommt als erster zu sich; er ist, wie immer in seinem Leben, auf die Füße gefallen. Eine alte Dame kommt auf ihn zugelaufen. Sie schimpft. Ihr gehört das Stückchen Strand, an dem sie gelandet sind. Dann steht sie vor ihm und ein glückliches Lächeln huscht über ihr Gesicht. Eines Tages, das hat sie schon immer gewußt, werden aus dem Nebel noch einmal die Schnabelschiffe der Normannen auftauchen, wird William, the Conquerer, noch einmal die Erde küssen. Als sie statt dessen zwei Inder findet, nimmt sie den einen, Gibreel, in ihrem Haus auf. Er macht einen mächtigen Eindruck auf sie, es glänzt und schimmert um seinen Hinterkopf beinahe so wie bei den Engeln auf den Heiligenbildchen, und außerdem erinnert er sie an eine Liebe ihrer Jugend, an einen argentinischen, lassoschwingenden Cabalero. Während Gibreel sich erholt, verliert er sich mit ihr in südamerikanische Tagträumereien.

Saladin hat es am Kopf erwischt. Zwei prächtige Beulen wachsen ihm auf seiner Stirn, und ehe er es sich versieht, schnappen ihn die Einwanderungsbehörden und fahren ihn zur nächsten Wache. Für sie ist der Fall klar. Noch ein 'Paki‘, ein 'Brownie‘, der sich auf illegalem Weg die Wohltaten seines Lebens in der gewählten Diktatur erschleichen will. Und Saladin, der bekannte Imitator, der Beherrscher von tausendundeiner Stimme, hat seine eigene verloren. Er kann dem, was man von ihm erwartet, was man in ihm sieht, nichts entgegensetzen, und das Unglaubliche geschieht: Saladin verwandelt sich in den Teufel. Außer den Hörnern auf der Stirn werden seine Füße zu Hufen, ringelt sich auf seiner Brust ein dichter Haarpelz und macht sich ihm, dem man aus Sicherheitsgründen nackt ausgezogen hatte, eine kräftige Erektion peinlichst bemerkbar. Die Metropolitan Police springt nicht gerade sanft mit braunen Teufeln um. Wer würde nicht verstehen, wenn einem Officer bei solch störrisch -biestlichen Kreaturen mal die Hand oder der Fuß ausrutscht? Auf dem Revier stellt sich bald heraus, daß es tatsächlich einen Stimmenimitator namens Chamcha gibt. Um die polizeilichen Übergriffe und -tritte bei der vermuteten illegalen Einwanderung zu vertuschen, steckt man Saladin in eine Irrenanstalt. Er ist dort beileibe nicht das einzige Menschen-Tier-Monster. Er sieht Geschäftsleute aus Nigeria, denen plötzlich lange Schwänze gewachsen waren, Frauen aus Senegal, die sich in Schlangenfrauen verwandelt hatten, einen, der halb Büffel war, eine andere, die einen Tigerkopf trug. Wie machen sie das nur, die Weißen, die Farangis, daß wir uns so verwandeln, fragt sich Saladin verzweifelt. „Sie haben die Macht der Beschreibung“, flüstert ihm da feierlich eine Stimme zu, „und wir unterwerfen uns den Bildern, die sie sich von uns machen.“

Eine Gesellschaft, in der der Rassismus so tief verwurzelt ist wie in der englischen, mußte Salman Rushdie feststellen, hat ein Problem. Sie lehnt im Fremden ab, was sie an sich selbst kennt, aber nicht wahrhaben will. Ihre Vorurteile sprechen den Ausländern Menschlichkeit ab, sehen sie als Teufel, als Biest, als Tier. Der Andere, das bin immer ich. Ein Rassist zieht Grenzen in sich selbst, sperrt voller Angst die Menschlichkeit aus sich aus. Nicht die Emigranten, sondern die Weißen werden sich ändern müssen. Als man Mahatma Gandhi einmal fragte, was er denn von der englischen Zivilisation halte, antwortete er, das wäre gar keine so schlechte Idee. Doch dem Teufel Saladin gelingt zwischenzeitlich die Flucht. Er versteckt sich in einem Stadtteil Londons, der Brixton nicht ganz unähnlich ist, quartiert sich in ein Mietshaus ein, das überwiegend von Indern bewohnt ist, und verbreitet einen penetrant schwefligen Geruch. Die Religionsgründung

Gibreel Farishta erinnert sich im Kokon seiner Tagträumereien von Tangotänzen über die weite Pampa schließlich an seine Gipfelstürmerin. Er verläßt die alte Dame, nimmt den nächsten Zug nach London, läuft durch die Straßen der Stadt und bricht mitten im Winter in einem öffentlichen Park zusammen. Warum? Gibreel hat Visionen. Auf einem Teppich fliegt eine Frau hinter, vor, neben ihm her. Sie verfolgt ihn unablässig, sie begleitete bereits seinen Sturz aus dem Flugzeug. Ihr Name ist Rekha. Sie war vor seiner Liebe zur Himalaya-Besteigerin die einzige Frau, zu der er immer wieder zurückkehrte. Er hatte sie nicht geliebt, aber er brauchte sie. Einige unklare Bilder blenden sich aus der Erinnerung in sein Bewußtsein. Ihr Haus, ein Penthouse namens Everest, eine Plattform, ein langer Schrei und ein Fall, ein Sturz. Noch ein Sturz? Wer möchte da nicht Engel werden?

Gibreel ist völlig übernächtigt. Er hat seit Tagen nicht geschlafen. Nichts gegen Tagträumereien, aber die Träume der Nacht sind ihm ein Graus. Denn sie erzählen ihm eine Geschichte, die er nicht hören und nicht sehen will, doch von Schlaf zu Schlaf spinnt sich ihr Faden fort. Schließt er die Augen, sieht er einen Mann den Mount Kegel hinaufsteigen. Es ist ein Geschäftsmann aus der Stadt Jahilia mit Namen „Mahound“. Jahr für Jahr verbringt er einen Monat auf dem Berg mit Fasten und Meditation. Doch eines Tages erscheint ihm der Erzengel Gibreel und verkündet ihm die Gesetze einer neuen Religion. Und Gibreel in seinem Schlaf tritt der Schweiß auf die Stirn. Er, Gibreel, träumt, er sei der Erzengel Gibreel und gleichzeitig der Prophet Mahound. Wie kann er sich als Erzengel Antworten geben, die er als Mahound nicht kennt? Wie kann er als Mahound Fragen stellen, die ihm als Erzengel nie eingefallen wären? Und außerdem: Die Rolle des Erzengels ist ihm auf den Leib geschnitten, aber diesen bärtigen Mann aus Jahilia, der ihm die Kiefer auseinanderzwingt und seraphische Worte und Offenbarungen entlockt, die nicht seine und doch seine sind, den mag er einfach nicht.

Erleichtert beobachtet er, wie Mahound vom Berg hinab in die Stadt Jahilia wandert, der Traummann hinab in die Traumstadt, die ganz und gar aus Sand gebaut ist. Er verkündet die neue Religion und bekehrt zuerst sein eigenes Haus, seine Frau Kadija, seinen Wasserträger Khalid, den ehemaligen Sklaven Bilal, den er freikaufte, und einen persischen Ausländer mit Namen Salman. Jahilia ist eine Stadt am Kreuzungspunkt der Karawanenstraßen. Sie lebt vom Handel und von der Religion. Nicht weniger als dreihundertsechzig Götterstatuen werden in ihren Tempeln angebetet. Als Mahounds Lehre von dem einen und einzigen Gott um sich greift, sehen die Kaufleute ihren Profit gefährdet, den ihnen die Vielgötterei einbringt. Abu Simbel, Vorsitzender des Rates der Stadt, engagiert Baal, den Schreiber giftiger Satiren, damit er seine spitze Feder gegen diesen Monotheisten richte. Aber Abu Simbel intrigiert auf mehreren Ebenen. Er bietet Mahound einen Kompromiß an: Wenn er nur drei der beliebtesten, alten Götter Jahilias neben seinem Gott Al-Lah als Sub-Götter akzeptiert, dann garantiert er ihm die Bekehrung der ganzen Stadt. Mahound ist versucht. Er klettert auf den Berg, nimmt Verbindung mit dem Himmel auf und kommt mit günstigem Bescheid vom Erzengel zurück. Die Anhänger des einen und einzigen Gottes sind empört. Und nur einen Tag später flüstert ihm Gibreel ins Ohr: Gestern bin ich dir nicht erschienen, gestern war der Andere da, der gefallene Engel, Shaitan. Atemlos eilt Mahound nach Jahilia zurück: Gestern, bekennt er, sprach ich die Verse des Teufels, die satanischen Verse. Bald darauf muß Mahound fliehen. Er findet Zuflucht und neue Anhänger in der Stadt Yathrib. Aber Gibreel läßt er keine Ruhe. Der braucht nur die Augen zu schließen, schon steht dieser bärtige Mann vor ihm und verlangt Verheißungen und Nachrichten vom obersten Management, will dieses und jenes und Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften, die verlangen, man solle das Gesicht in den Wind drehen, wenn man furze, die festlegen, welche Hand man zum Säubern seines Hinterns zu benutzen habe, wieviel man essen, wie tief man schlafen sollte und welche sexuellen Stellungen göttliche Billigung gefunden hatten.

Solche Träume bleiben nicht ohne Nachwirkungen. Nach zwei, drei Tagen in England hatte sich Gibreel noch einen Hut gekauft, um das verdächtige Glimmen seines Heiligenscheins zu verbergen. Aber die göttliche Natur durchdringt jeden Filz und überwindet jede Begier. Denn rasch hat er eingesehen, daß seine Liebe zur Gipfelgemse Alleluia Cone überwunden werden muß, will er seinen eigentlichen Auftrag erfüllen. England muß verwandelt werden! Er, Gibreel Farishta, der 'Paki‘, der 'Brownie‘, der Ausländer, wird diesem Land die Erlösung bringen. Und da Engel keine besonders realistischen Wesen sind, glaubt er, alle Probleme lösten sich mit dem Wetter. Tropikalisierung wäre hier das Schlagwort. Die Sonne an den englischen Himmel, neue Vögel in die Bäume, neue Bäume unter die Vögel, lange Abende in Straßencafes, leicht gekleidete Mädchen auf die neuen Boulevards und ein Verbot für alle Wärmflaschen. Das müßte selbst die britische Gesellschaft von Grund auf revolutionieren. Also hat Allah ihm schließlich doch noch ein Zeichen gegeben. Er, Gibreel Farishta, der Empfänger himmlischer Filmträume, ist der in Menschengestalt verkörperte Erzengel Gibreel. Mit dem Buch in der Tasche, dem Buch für die Stadt, die er zu retten kam, dem London A -Z, macht er sich auf, die Ungläubigen auf den rechten Pfad zurück zu bringen. Nur daß Rekha auf ihrem fliegenden Teppich vor ihm herflattert, irritiert ihn etwas. Was will diese Frau, was verlangt sie? Mrs. Torture

Der Teufel ist ein schlechter Träumer, aber ein besserer Realist. Im Mietshaus reagiert man zwiespältig auf den satanischen Saladin. Die einen, die älteren, fürchten sich vor ihm, aber die jüngeren sind begeistert vom Outfit des Beelzebuben. Hörner kommen in Mode, sie werden zum Symbol der rebellierenden Emigranten Englands wie einst die gespreizten Finger der Schwarzen Amerikas. Saladin gewinnt neues Zutrauen zu seinem verwandelten Ich und macht sich auf die Suche nach einem Job. Aber außer dem Wetter ändert sich noch etwas im United Kingdom. Zum Beispiel nimmt die Zahl der Millionäre zu, die Zahl der Arbeitsstellen ab. Erst recht für kaum wiedererkennbare Stimmenimitatoren, deren Repertoire sich auf ein undeutliches Meckern reduziert hat. Man wimmelt ihn ab, man entschuldigt sich, die allgemeine Lage, die Ökonomie, er wisse schon, und immer wieder kommt die Rede auf eine gewisse „Mrs. Torture“, auf „Maggie the bitch“. „Oh ja, sie ist radikal, ganz recht“, hört Saladin während seiner unfreiwilligen Nachhilfestunden in Gesellschaftskunde. „Sie will - und sie glaubt, verdammt nochmal, sie schafft es - buchstäblich eine ganze, gottverdammte, neue Mittelklasse für dieses Land erfinden. Weg mit den alten Wirrköpfen und den Scheißern... der alten Klasse, diesen Halbtoten... und her mit den Leuten ohne Geschichte und ohne Erfahrung, den hungrigen Leuten. Auch die Intellektuellen. Weg mit der ganzen schwulen Bande. Und her mit den gierigen Typen, den neuen Professoren, neuen Malern, die ganze Bagage. Es ist eine verfluchte Revolution. Etwas Neues kommt in dieses mit alten Leichen vollgestopfte Land. Das wird eine Show. Das ist schon eine.“

Saladins Verteufelung ist für seine Mitbewohner nicht mitanzusehen. Außerdem verbreitet sich unter den Schwarzen Londons ein Satanskult, wird die Motorradmütze unter den Streetfightern von der Satansmaske abgelöst. Es brauchte ja nur eine Hausdurchsuchung, und dann? Er verstehe doch sicher. Man verbirgt ihn vorläufig im Club Hot Wax. Eine Disko, ein Immigrantentreff mit einer ganz besonderen Attraktion. In einem der Hinterzimmer steht eine Galerie von Wachsfiguren. Die Gesichter sind bekannt. Die rassistischen Einpeitscher der Nation kann man erkennen, zum Beispiel den Faschistenführer Sir Oswald Mosley oder den konservativen Abgeordneten Enoch Powell. Und wenn die Stimmung auf dem Siedepunkt ist, wird die Höllenküche auf die Bühne gefahren, ein überdimensionaler Mikrowellenherd. „Schmelzen, schmelzen“, schreit das Publikum, und dann schreit es einen Namen. Die Wachspuppe, die am häufigsten auf den heißen Sitz geschnallt wird, hört auf den Namen: Maggie-Maggie-Maggie. Aber Saladin ist gar nicht wohl bei diesem Schauspiel. Und während er sich fragt, ob er jemals wieder aus diesem Teufelskostüm heraus und in das des kühlen Briten zurückschlüpfen kann, erinnert er sich plötzlich mit unbändigem Haß an seinen Widersacher, an seinen Kollegen, der mit ihm aus dem Himmel fiel, aber weder des Himmels noch der Erde verwiesen wurde, an Gibreel, den Erzengel. Doch der ist in die Welt zurückgekehrt, in der es Engel zwar nicht leicht, doch leichter haben, in die Welt von Traum und Fiktion. Im Schlaf verfolgt ihn auch kein fliegender Teppich. Noch einmal, zum letzten Mal, schwebt er wie ein Kameraauge über dem Geschäftsmann, der zum Propheten wurde. Die Geburt der Weltreligion neigt sich ihrem Ende zu, der Kopf ist schon zu sehen. Heimatliche Fremde

Engel und Teufel, das sind zwei Geschichten zur gleichen Idee. Gibreel scheitert kläglich, das Wetter hält sich nicht, und seine weltverbesserischen Samariterdienste treffen nur auf Spott und Hohn. Und Saladin distanziert sich schließlich von aller Politik. Er trauert noch immer seinem Leben als Engländer nach. Keiner von beiden kennt die Antwort. Was die Frage war?: Wie lebt man in zwei Ländern? Wie lebt man in fremder Heimat, in heimatlicher Fremde? Paßt man sich an, so wie Saladin? Oder schifft man außer der Familie auch seine Götter und Traditionen mit ein? Simuliert man Indien in England, Türkei in Deutschland, oder simuliert man als Inder die Engländer? Nichts wird bleiben wie es war. Kein Land wird seine nationale Identität einzig aus der Vergangenheit heraus festschreiben können. Der kulturelle Dialog hat gerade erst begonnen, und wie England wird jedes europäische Land auf seine Weise viele Nationen werden müssen. So wie die französisch sprechenden Normannen sich einst mit den Angelsachsen zu einem neuen Menschenschlag vermischten, so kehrt jetzt die Geschichte des Weltreiches auf die Insel zurück. Die Eroberten suchen Zuflucht bei den Eroberern. Sie verlangen Anteil an dem, was durch sie und den Reichtum ihrer Länder geschaffen worden ist. Durch seine Kolonien wird sich England erneuern. Sylvester, ein in England politisch verfolgter Einwanderer, sagt in einer Rede, der Saladin zuhört: „Ich gebe gerne zu, daß wir uns verändern werden; Afrikaner, Inder, Pakistani, Bangladeshi, Cyprioten, Chinesen, wir sind heute andere als die, die wir gewesen wären, hätten wir nicht auf der Suche nach Arbeit und Menschenwürde und einem besseren Leben für unsere Kinder die Himmel überquert. Wir wurden neu erschaffen: aber ich sage Euch, daß wir auch die sein werden, die diese Gesellschaft neu erschaffen werden, ganz und gar, von oben bis unten.“ Der Postbote Al Lahs

Die Satanischen Verse sind, außer den vielen anderen Geschichten, die sich in diesem Buch verbergen, wie Farben in einem Blumenstrauch, Rushdies Version der Entstehungsgeschichte des Korans. Er erzählt die moslemische Geschichte neu. Mal lakonisch, dann wieder überschäumend vor Erzähllust, immer witzig gibt das Buch seine Lesart vom Leben Mohammeds. Vor keiner Autorität und vor keiner Heiligkeit macht es halt. Er zerbricht das Erstarrte, das formelhaft Stereotype wiedergegebener Hagiographien. Mohammed, der Heilige, der Unnahbare, wird zum Menschen Mahound. Weiß man denn nicht mehr, daß es von Mohammed kein zeitgenössisches Porträt gibt, weil er Angst davor hatte, man würde seine Bildnisse anbeten? Mohammed war ein Mensch, wenn auch der Bote Gottes. Mahound aber, so Rushdie, ist der Postbote Al-Lahs.

Siegreich kehrt der Postbote aus seiner Zuflucht Yathrib in seine Heimatstadt Jahilia zurück. Baal, sein alter, verseschmiedender Widersacher, versteckt sich vor dem Zorn der Propheten im Bordell „Der Schleier“, verkleidet als Eunuch. Die Huren mögen ihn und heiraten ihn. Zwölf Frauen hat Baal, so viele hat außer ihm nur der Prophet. Aber noch ehe er daraus seine Schlüsse zieht, erkennt ihn einer der Kunden. Salman, der Schreiber, ist wie Baal auf der Flucht vor dem Zorn des Siegels der Propheten. Die beiden trinken ihre Henkersflasche, und Salman erzählt, wie es ihm in Yathrib ergangen ist.

Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften, stöhnte Salman, habe Mahound im Namen Gibreels von sich gegeben. Die Gläubigen hätten jeder neuen Offenbarung nur noch mit Schrecken entgegengesehen. Und plötzlich habe er denken müssen, daß dieser Erzengel wie ein Geschäftsmann rede, dem Ordnung und Regeln ja im Fleisch und im Blut stecken. Und die Offenbarungen kamen so verdächtig passend, waren so verdammt praktisch auf die Wünsche Mahounds zugeschnitten. Stellte Mahound in einer Diskussion unter den Ältesten eine waghalsige Behauptung auf, kam prompt in der nächsten Nacht der Engel und bestätigte, daß nie ein Mensch auf dem Mond landen würde oder die Höllenstrafen nicht ewig währten. Salman begann zu zweifeln. Und als Mahound, der weder lesen noch schreiben konnte, ihm das nächste Mal die nächtliche Offenbarung diktierte, änderte er in der Niederschrift einige Worte. Er, Salman, der Perser, der Ausländer, schrieb seine eigenen Worte in die göttliche Botschaft, in den heiligen Text, der Buchstabe um Buchstabe Diktat des obersten Wesens sein sollte, und keiner schien den Unterschied zu bemerken. Erst als er ganze Passagen änderte, schöpfte Mahound Verdacht, und Salman floh vor seinem Herrn und dessen Heer zurück nach Jahilia. Weißt du, meint Salman resigniert, er wird mich umbringen müssen. Er hat keine Wahl. Es steht ja sein Wort gegen meins.

Im Bordel „Der Schleier“ geschieht derweil Unerhörtes. Baal stellt fest, daß er nicht nur die gleiche Anzahl Frauen hat, sie sehen den Frauen Mahounds sogar ein wenig ähnlich. Und Baal kommt auf eine immens profitable Idee. Jede seiner verehelichten Huren nimmt den Namen einer Frau des Propheten an, sie kleiden sich ähnlich, eignen sich etwas von deren Geschichte an, kurz, sie tun so als ob. Der Erfolg ist ungeheuer. Die Männer drängt es nach den „Frauen des Propheten“, und da sie kaum auf der Straße Schlange stehen können, drehen sie ihre Runde im Innenhof. Rund und rund und rund um den Quell der Liebe, als wäre er das Haus mit dem schwarzen Stein. Doch Baals Tage sind gezählt. Mahounds Truppen entdecken ihn. Er wird vor den Propheten geschleift, und der verkündet das Todesurteil. „Huren und Schriftsteller“, schreit Baal, „denen kannst du nicht verzeihen.“ Antwortet Mahound: „Huren und Schriftsteller. Ich seh‘ da keinen Unterschied.“ Aber der Prophet war alt. Er hat den Tod des Dichters nicht lange überlebt.

Viele Geschichten bleiben hier unerwähnt. Doch es fehlt der Abschluß der Tragödie. Nach soviel Nacherzählung müssen allerdings ein, zwei Bilder genügen. Gibreel wird vollends schizoid, er hält sich nicht mehr für den Erzengel Gibreel, er glaubt sich nun in den Todesengel Azraeel verwandelt, der mit Feuer und Schwert und der Posaune des jüngsten Gerichtes in London einfällt. Saladin, durch den Haß auf den Engel wieder Mensch geworden, schwört Gibreel Rache und fordert ihn zum Duell. Er wählt sich Verse als Waffen, zum Kampfplatz wird die Liebe bestimmt. Stimmenimitator und Schauspieler, beide spielen ihre letzte Rolle. Saladin kehrt nach Indien zum sterbenden Vater zurück, und dort, im Schlafzimmer des alten Herrn, löst Gibreel das Rätsel um Rekha und ihren fliegenden Teppich. Dann fällt aus Aladins Wunderlampe ein Schuß. Einer gewinnt, einer verliert. Kan ma kan/Fi qadim azzaman - so war es, so war es nicht.

Salman Rushdie, The Satanic Verses, Viking, 549 Seiten, 47 DM

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