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Das Ende der Frontstadt

■ 8.000 Polen auf dem Wochenendmarkt in West-Berlin / Die Mauer wird durchlässiger - nur nicht für DDRler

Preisfrage (bei der auch viele Berliner sich grob verschätzen): Wie weit ist es vom Brandenburger Tor bis zur polnischen Grenze? - Ganze 50 Kilometer. Seit die Warschauer Regierung ihre Bürger ohne Visum nach West-Berlin fahren läßt, hat das Folgen. Am Potsdamer Platz hat sich an den Wochen enden ein Markt ohne Tische und Stände etabliert. Rund 8.000 polnische Familien und Studenten bessern hier ihren mageren Lohn auf. 20 Flaschen Wodka zu verkaufen verdoppelt den Monatsverdienst.

1984, während der Internationalen Bauausstellung in Berlin, wurde ein Winkel einem großstädtischen Traum gewidmet: der große Markt vor dem Tore, die undefinierte Brache als der Umschlagplatz der Waren und Kulturen, als Ort der Mischung von Menschen aus allen Himmelsrichtungen. Jetzt, seit Anfang des Jahres die polnische Regierung ihre Bürger auch ohne Ausreisevisum nach West-Berlin fahren läßt, ist die Utopie Wirklichkeit geworden: Die Polen sind gekommen. „20.000 Schwarzhändler“, laut 'Bild'-Zeitung, auf der größten innerstädtischen Brache Berlins, 100 Meter von der Mauer entfernt, gleich neben dem ehemaligen Potsdamer Platz, der einmal der verkehrsreichste Ort Europas war. Begonnen hatte es vor vier Wochen mit einigen hundert Verkäufern, die fürs Wochenende den neuen Markt bevölkerten, vierzehn Tage später waren es schon 3.000 und am letzten Sonntag runde 8.000 ('Bild‘ sah doppelt).

Und „Schwarzhändler“? Blickt man einmal nicht auf die Waren, sondern auf die Gesichter, so sieht man kaum professionelle Verkäufer, sondern vor allem Familien, Hausfrauen, polnische Mittelklasse. Sehr oft stumme Anbieter, leicht geniert, die in Zeichensprache mit Türken verhandeln. Aber man blickt natürlich auf die Waren: auf Plastikplanen im Schlamm die grotesk-dürftigen Ensembles des polnischen schwarzen Marktes - Eier, Geschirrtücher, Lötkolben, Bonbons, getrocknete Pilze, Honig, Babywäsche, Unterhosen, Plastiktaschen, Fuchsschwänze, Würste, Teeservice, internationaler Kitsch, Folklore, selbst Filzstifte.

Hinter diesem Angebot stehen zehn Stunden Fahrt im Fiat -Polski, im überfüllten Zug, stehen zwei exemplarisch unangenehme Grenzen. Es lohnt sich, um elektronische Massenware einzukaufen, um ein paar Devisen zu verdienen. Wer 20 Flaschen Wodka für je einen Dollar in einem polnischen Intershop kauft und sie hier für 4 D-Mark das Stück verkauft, hat (nach dem Schwarzmarktkurs) 72.000 Zloty verdient - das monatliche Durchschnittseinkommen an einem Wochenende.

Ein Markt, schwarz von Menschen, keineswegs attraktiv nur für Händler und Käufer, sondern auch ein Wochenendspaß für Berliner.

Schwarzmarkt

oder Utopie?

Seit Jahren wird in Berlin die Öffnung nach Osteuropa gepredigt. Schriftstellerkongresse, Kulturaustausch, Technologietransfer, historische Erinnerung an Berlin als Einwandererstadt der Polen - alles Anstrengungen, die alte Fronstadt in die reale geographische Lage zu verschieben, nämlich nur 50 Kilometer von der polnischen Grenze bei Frankfurt an der Oder entfernt.

Die alte Insel des Westens scheint plötzlich kontinentalen Grund gefunden zu haben, liegt abrupt in Mitteleuropa. In der einstigen historischen Mitte der Stadt ist Osteuropa aufgetaucht und damit die osteuropäische Schattenwirtschaft.

Aber die hautnahe Begegnung mit der Schattenwirtschaft selbst alarmiert jene, die ihre Stadt den Touristen am liebsten nur mit Glitzerboutiquen, Festivals und Skulpturenboulevard verkaufen möchten. Die Stadtverwaltung sieht ein „ordnungspolitisches“ Problem und einen Skandal der Gesellschaftsästhetik. Prompt wird die Unordnung reguliert: Hundert Polizisten bei der Verkehrsregelung, 54 abgeschleppte Falschparker, 78 Verwarnungen werden vom letzten Wochenende gemeldet. Konzertierter Einsatz des Staates: Zoll, Polizei, Beamte des Landeseinwohneramtes, die bezirklichen Veterinärmediziner, sämtliche Abteilungsleiter des Bezirksamtes Kreuzberg, die Gesundheitsstadträtinnen Brunhild Dathe und Sibylle Wurster (beide AL) der angrenzenden Bezirke Kreuzberg und Tiergarten vor Ort; im Zweifelsfall sollen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) auch Lebensmittel beschlagnahmt werden. Die Waren sind auch schon nach Radioaktivität abgecheckt worden. Vor getrockneten Pilzen wird ernsthaft gewarnt. Fleisch dagegen, das in Polen nur auf Lebensmittelmarken zu erhalten ist, hat akzeptable Becquerelwerte.

Der Zoll rechnet die Wochenendprämie nach: 15.000 Mark an Einfuhrzoll und Steuern kassiert; 130 Kilo Käse, 55 Kilo Butter, 115 Kilo polnische Hartwurst, 50 Kilo Zucker, elf Liter Wodka, zwölf Schmuckketten und ein Blaufuchs beschlagnahmt. Die Händler vom nebenan liegenden traditionellen Krempelmarkt sind empört, ihr Angebot ist auf einmal uninteressant, außerdem müssen sie pro Tag 100 Mark Standgebühren zahlen.

Am vergangenen Freitag legte die CDU die Musik auf, nach der in Zukunft der ordnungspolitische Marsch geblasen werden soll. Ihr Landesgeschäftsführer Wienold empörte sich über die „handelfreudigen Polen, die denken, hier einen gesetzesfreien Raum gefunden zu haben“. Der Postdamer Platz gewissermaßen als mitteleuropäische Hafenstraße! Und dann kommen Wienolds konzentrierte Assoziationsketten: „Lärmbelästigung, Unrat, Exkremente, hygienischer Zustand„; Assoziationen, als ob es darum gehe, ein neues Scheunenviertel, einst das Getto der Ost-Juden, zu verhindern. Schließlich ein Satz offener Empörung: „Die Versorgungslage in Berlin ist über 40 Jahre nach Kriegsende bestens, es besteht überhaupt kein Grund, hier einen Schwarzmarkt zu dulden.“ Bezirksämter und Senat haben eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich dem neuen Handelsplatz widmen soll. Die Alternative: verbieten (und mit Flugblättern auf Polnisch darauf hinweisen, daß Touristen keinen Handel treiben dürfen) oder legalisieren und Standgebühren kassieren, um die Reinigung des Platzes damit zu bezahlen.

Bazaratmosphäre

Das Trauma vom Schwarzmarkt? Viele können ihm durchaus Positives abgewinnen. Nicht nur Türken und Jugoslawen, die Hauptkäufer. Gerhard M.: „Ich habe gerade Butter und Käse hier gekauft. Ist wirklich billig hier. Ich bin seit acht Jahren arbeitslos, da muß man schon auf die Mark gucken.“ Und: „Die reinste Bazaratmosphäre hier. Da wird gehandelt wie in südlichen Ländern. Ich find's super hier. Die reinste Renaissance. Nach dem Krieg war's ja genauso. Schwarzmarkt und so. Ich bin 58, das kenn‘ ich alles noch.“

Waren im Wert von 1,5 Millionen Mark sollen die Polen am letzten Wochenende umgesetzt haben. Das meiste Geld ist wiederum in West-Berlin ausgegeben worden. Wo liegt also das Problem? Ein moralisches Problem gibt es sicherlich: Grzegorz Zietkiewicz, ehemaliges Solidarnosc-Mitglied in West-Berlin, erklärte gegenüber der taz: „Daß das hier im Westen einen schlechten Eindruck macht, wird von den meisten Polen nicht verstanden.“ Doch den Handel mit polnischen Waren findet er auch „nicht immer moralisch einwandfrei. Erfährt man in Polen, daß begehrte und benötigte Waren hier verkauft werden, dann wird man nicht begeistert sein. Besonders eklatant finde ich den Verkauf von Babykleidung, die seit Jahrzehnten schwer zu erhalten ist.“ Aber das ist ja kein ordnungspolitisches Problem.

Hierzulande werden die Schübe der multikulturellen Gesellschaft in Begriffen des Blitzkrieges abgehandelt: von Tamilenflut bis zur Poleninvasion. Aber wenn Berlins Zukunft im großen Umwälzungsprozeß von Osteuropa zu suchen ist, wenn Berlin darauf hofft, in Gorbatschows „gemeinsamem europäischem Haus“ womöglich die Beletage zu besetzen, dann ist dieser Polenmarkt die erste Botschaft. Die Zeit der „Öffnung“ Berlins nach Osteuropa als begrenzter Zugang für Kulturträger und High-Tech-Interessenten ist vorbei. Berlin ist offen, das heißt unmittelbar konfrontiert mit dem Elend und dem wirtschaftspolitischen Desaster in Osteuropa. Mitteleuropäische Normalität hat begonnen.

Am Potsdamer Platz, mit Brachland und Mauer immer noch anschaulicher Ort der Kämpfe in den letzten Kriegstagen, geht die Nachkriegszeit zu Ende. Keine Frage, die Berliner, wenn sie nicht gerade frustrierte Anwohner sind oder Ordnungspolitiker mit Angst vor menschlichen Exkrementen, begrüßen es nachgerade enthusiastisch, daß innerhalb von zwei Monaten das Bild einer lebendigen Metropole entstanden ist.

Klaus Hartung

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