: Von der Tolerierung zur Mutterbrust Opposition
■ Opponieren, tolerieren oder koalieren - eine Frage des politischen Selbstverständnisses der Partei
Günter Seiler
Tolerieren oder koalieren ist keine Frage, die man aufgrund modelltheoretischer Überlegungen beantworten könnte. Es geht also nicht darum, die Vor- und Nachteile unterschiedlicher Formen von Bündnispolitik gegeneinander abzuwägen und dann dieser oder jener den Vorzug zu geben. Tolerieren oder koalieren ist auch keine Frage, die pragmatisch entschieden werden sollte, indem man ihre Beantwortung vom Ausmaß der inhaltlichen Übereinstimmung der potentiellen Bündnispartner abhängig macht. (So das offensichtliche Verständnis der Mitgliederversammlung der AL, die zwar Verhandlungen mit dem Ziel der Koalition befürwortet hat, über die endgültige Form der Kooperation aber erst am Ende des Verhandlungsprozesses entscheiden will; ungefähr nach dem Motto: 30% Übereinstimmung Tolerierung, 50% Übereinstimmung Koalition.) Tolerieren oder koalieren ist schon gar keine Frage der Wahlarithmetik. Es kann nicht darum gehen, so wie Ludger Volmer am 23. Februar in der taz darüber zu spekulieren, welche Variante momentan das breitere Wählerspektrum auf sich vereinigen mag.
Opponieren, tolerieren oder koalieren ist in erster Linie eine Frage des politischen Selbstverständnisses, der Funktion, die man als Partei ausfüllen möchte, der Rollenzuweisung, die man für sich bereithält, also eine Frage der politischen Identität. Die anderen Fragen sind zwar nicht völlig unerheblich, aber doch sekundär. Sie lenken von der zentralen Fragestellung, wie und wozu will man Politik machen, letztlich nur ab. Und sie dienen zur Rationalisierung, d.h. zur scheinbar rationalen Bewältigung nunmehr aufkeimender Identitätsprobleme.
Die Tatsache, daß in der AL ein Streit um Tolerierung oder Koalition vom Zaun gebrochen wurde, angezettelt auf einem Strömungstreffen in Bonn und insofern zum Strömungsstreit erhoben ( was - nur einmal nebenbei gesagt - etwas anderes ist, als eine private Meinung zum besten geben), diese Tatsache spiegelt nichts anderes wider als die Befürchtung, man könne die Rolle, die man sich zugedacht hat, jetzt nicht mehr spielen, müsse eine andere Funktion wahrnehmen, eingeübte Verhaltensmuster und erprobte Erklärungsschemata preisgeben. Solcherlei Befürchtung nennt man Identitätskrise. Geradezu flehentlich klingt die an die Adresse der SPD gerichtete Aufforderung, man möge sich gegenseitig versichern, in einem Bündnis ginge es nicht darum, einander die Identität zu rauben. Wenn schon Zuneigung sein muß, soll sie wenigstens platonisch bleiben!
Kommen wir zu dem, was die in Gefahr geratene Identität ausmacht: Die Tolerierung eines SPD-Senats durch eine AL -Abgeordnetenhausfraktion wird von Leuten propagiert, die sich undogmatische Linke nennen. Davon gibt's sicherlich 'ne Menge, aber eben auch einige, die sich unter dieser Etikettierung in der grünen Partei strömungsmäßig organisiert haben. Um die geht es zunächst, um deren Identität. Aber nicht nur das: deren verinnerlichtes politisches Selbstverständnis dürfte durchaus repräsentativ sein für die AL und auch für einen Großteil der sich über die AL hinaus als Linke verstehenden Menschen. Insofern scheint es mir legitim und aufschlußreich dazu, die Charakterisierung der für die AL und eines relevanten Teils ihres Umfelds in Frage stehenden Identität einem Papier zu entnehmen, das gewissermaßen das Gründungsmanifest der „undogmatischen Linken in den Grünen“ darstellt. Es trägt den nicht gerade identitätsstiftenden Titel „Langweilige Bekenntnisse einer illusionslosen Bestandsaufnahme“ und wurde im Juni '88 zur Vorlage auf dem Perspektivenkongreß der Grünen geschrieben; unterzeichnet ist es u.a. von Birgit Arkenstette, Albert Statz und Harald Wolf.
In dem Positionspapier wird für eine Politik der Kompromisse plädiert. Damit grenzt man sich von den Fundis ab. Die Abgrenzung von den Realos erfolgt, indem man Kompromißbereitschaft allerdings nur dann zeigen will, wenn sie taktische Vorteile verspricht. Wörtlich: „Derartige Kompromisse haben nichts mit Anpassung und Unterordnung unter das Bestehende zu tun. Sie müssen existierende Brüche im gesellschaftlichen Konsens konsolidieren und vertiefen, die Bedingungen für die Verfolgung oppositioneller Ziele verbessern, partielle Errungenschaften absichern - kurz: die Option auf eine radikale Gesellschaftstransformation offenhalten und nicht blockieren ... Eine solche Politik verlangt deshalb die (relative) Autonomie der Grünen gegenüber dem Staat ..., indem sie ihren zentralen Bezugspunkt nicht im Staat, sondern in der Gesellschaft haben und ihre zentrale Funktion darin sehen, gesellschaftliche Widersprüche in die Staatsapparate zu tragen.“
Die „langweiligen Bekenntnisse“ enden mit der Aufforderung an die grüne Partei (ich zitiere wieder wörtlich) “... sich dem aus der politischen Perspektivlosigkeit geborenen Amoklauf des Ministerflügels zu erwehren, dem bei der Verfolgung seiner fixen Idee der Grünen als Regierungspartei offensichtlich jeder politische Schwachsinn recht ist. Die Alternative des Ministerflügels 'Realpolitisch sein oder nicht sein‘ ist ein dreister Erpressungsversuch gegenüber der Partei und in seiner gedanken- und phantasielosen Zuspitzung reaktionär...“
Das ist die Identität der Systemopposition, d.h. einer Politik, die ihr Selbstverständnis und ihre Legitimation nicht aus der Opposition gegenüber konservativen oder gar faschistoiden Positionen herleitet, sondern aus der Opposition gegenüber einem System, das durch die Konfrontation des Staates mit der Gesellschaft (Herrschern und Beherrschten) und durch den Kampf von wahren und aufrechten Linken (mal mehr, mal weniger dogmatisch) gegen Verräter und Reaktionäre (rot/grüner, rosa/roter und schwarzer Couleur) gekennzeichnet scheint. Das ist die Identität des Fundamentalismus, die sich von der eines Trampert oder Ebermann nur dadurch unterscheiden möchte, daß sie deren Politik für nicht trickreich genug und deshalb schlicht für duselig hält.
Ich werfe niemandem vor, daß er Regierungsbeteiligung als Amoklauf denunziert, auch nicht, daß er Realpolitiker als Reaktionäre abstempelt. Ich werfe auch niemandem vor, daß er meint, durch die Infiltration gesellschaftlicher Widersprüche in den Staatsapparat eine radikale Systemtransformation bewirken zu können. Wer glaubt, die gesellschaftliche Situation verlange nach fundamentalistischer Politik, der soll sich mit den ideologischen Versatzstücken der zwanziger und dreißiger Jahre kostümieren und die Herrschenden mit linken Haken eindecken, wo er sie trifft. Der soll aber, wenn seine Identität in die Krise gerät, weil die gegenwärtige Konstellation ein rot/grünes Bündnis unumgänglich macht, von uns nicht fordern, wir dürften erst dann auf den Regierungsbänken nicht Platz nehmen, wenn er - gewissermaßen quasi-regierend, quasi-opponierend - seine Therapie absolviert hat.
Ich will, - obwohl vieles dafür spricht - gar nicht mal unterstellen, daß die Tolerierungsoption der „undogmatischen Linken“ ein schlitzohriger Sabotageakt ist, mit dem Ziel, die Partei in die Opposition zurückzupfeifen. Gehen wir ruhig mal davon aus, Arkenstette und Wolf haben in Bonn den ernst gemeinten Versuch unternommen, für sich selbst und die AL einen Ausweg aus der Identitätskrise zu finden. Der Ausweg ist eine Sackgasse! Die AL muß sich entscheiden, ob sie zusammen mit der SPD an der Formierung eines Bündnisses arbeiten will, das sich als Alternative zu dem zwar auseinanderbrechenden, aber bundesweit immerhin noch regierenden Block von revanchistischen und konservativen Positionen begreift. Ein solches Bündnis lebt von der Opposition gegenüber Kohl und Konsorten, kann aber Bedeutung über den Tag und über Berlin hinaus nur dann erlangen, wenn es hier seine Regierungsfähigkeit unter Beweis zu stellen vermag. Das Modell einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung, toleriert durch eine AL-Fraktion, die nicht weiß, ob sie regieren oder opponieren will, kann dieser Anforderung nicht gerecht werden. Man soll nicht glauben, man könne seinen Bündnispartner auf Distanz halten, um zu testen, ob man ihm trauen kann, dabei den außerparlamentarischen, oppositionellen Bewegungen gleichzeitig überzeugend versichern, daß man im Grunde fundamentalistisch geblieben ist, und dann auch noch zusammen mit der SPD 1990 die Bundestagswahlen gewinnen wollen. Das wird niemanden überzeugen, vor allem nicht die, die sich für eine rot/grüne Perspektive erst noch erwärmen müssen. Die SPD, die vor den Wahlen auch nicht gerade den Eindruck erweckte, sie strebe nach der Macht, hat diese Lektion sehr schnell begriffen. Sie ist deshalb der AL einen Schritt voraus. Was das bedeutet, haben die Ereignisse der letzten Woche gezeigt: Zwei AL-Strategen mucken auf, Momper setzt die Verhandlungen aus, beruft den Delegiertenrat der AL ein und diktiert ihm die Tagesordnung. Die AL kann nur noch absegnen, was sie eigentlich erst mal diskutieren wollte. Nach vollzogenem Kniefall darf man an den Verhandlungstisch zurück. Das war keine Debatte um Tolerierung oder Koalition, das war die vorgezogene Tolerierungspraxis! Ich habe nicht den Eindruck, daß die AL aus diesem Wechselbad gestärkt hervorgegangen ist. Springen oder sitzen bleiben, koalieren oder opponieren - das sind im Moment die Alternativen der Alternativen. Wer Tolerierung sagt, will - bewußt oder unbewußt - zurück an die kuschelige Mutterbrust der Opposition. Und noch eins: Ein Tolerierungsvertrag ist kein Vereinigungsvertrag. Ich glaube, das verwechseln einige, bei uns und bei den Sozis.
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