Venezolanische Bevölkerung weiter im Aufstand

■ Schießereien in den Elendsvierteln von Caracas gehen weiter / Berichte über mindestens 200 Tote und 2.000 Verletzte / Lage auch nach Lohnerhöhungen nicht völlig normalisiert / Innenminister macht „kleine anarchistische Gruppen“ verantwortlich

Caracas (ap) - Den venezolanischen Sicherheitskräften ist es auch in der Nacht zum Donnerstag nicht gelungen, den Aufstand von Teilen der Bevölkerung niederzuschlagen. Während in den übrigen betroffenen Städten - von insgesamt sieben war die Rede - wieder Ruhe eingekehrt war, dauerten die Unruhen in den Elendsvierteln von Caracas weiter an. Auch am Mittwoch von Präsident Carlos Andres Perez verkündete Lohnerhöhungen trugen nicht zu einer wesentlichen Entspannung der Lage bei. Innenminister Alejandro Izaguirre sagte, „kleine anarchistische Gruppen“ legten es darauf an, den Aufruhr zu verlängern, und ließ damit durchblicken, daß es den Anführern des Aufstands nicht wirklich um einen Kampf gegen Preiserhöhungen gehe.

Die in Caracas erscheinende Zeitung 'El Nacional‘ berichtete in ihrer Donnerstagausgabe unter Berufung auf Polizeiangaben, seit Beginn der Unruhen am Montag seien mindestens 200 Menschen getötet und mehr als 2.000 verletzt worden. Das Blatt führte die Namen von 159 Toten auf, die in den überfüllten Leichenhallen von Caracas lägen.

In den Elendsvierteln an den Hügeln östlich und westlich der venezolanischen Hauptstadt lieferten sich teilweise mit Maschinenpistolen bewaffnete Heckenschützen und Soldaten in der Nacht zum Donnerstag Gefechte. Presseberichten zufolge sollen bei Schießereien in den Armenvororten am Mittwoch erneut neun Menschen ums Leben gekommen sein. Ein Major sagte, einige Heckenschützen hätten israelische Maschinenpistolen und Sturmgewehre. Sie würden offensichtlich von den Bewohnern der Vorstädte gedeckt. Zeugen sagten, in einem Laden in der Barackenstadt Catia sei eine plündernde Frau erschossen worden. Über Plünderungen und Tote wurde auch aus Vierteln wie El Valle, Nueva Tacagua und Petare berichtet. Ein katholischer Priester sagte, in Petare seien die Krankenhäuser voll belegt.

In Caracas begannen wegen der umfangreichen Plünderungen in den vorangegangenen Tagen am Mittwoch die Lebensmittel knapp zu werden. Vor den Geschäften, die noch Waren hatten, standen lange Käuferschlangen an. Eine Frau mit zwei Kindern sagte in der Innenstadt von Caracas: „Ich habe jetzt in zwei Schlangen vier Stunden gewartet, und als ich dran war, war der Laden völlig leer. Ich weiß nicht, wie ich jetzt an Essen kommen soll.“ Ein Militärsprecher teilte mit, die Armee habe eine Luftbrücke eingerichtet und fliege Lebensmittel aus dem Landesinnern nach Caracas.

Der Aufruhr hatte sich an der Erhöhung der Busfahrpreise und der Benzinpreise entzündet. Der sozialdemokratische Präsident Perez hatte darauf am Dienstag das Kriegsrecht und ein nächtliches Ausgehverbot verhängt. Beide Maßnahmen waren am Donnerstag weiter in Kraft.

Der größte venezolanische Gewerkschaftsbund und die Arbeitgeberverbände haben sich nach Angaben der Regierung auf eine Erhöhung aller Löhne um 2.000 Bolivar - das sind annähernd hundert Mark - verständigt. Für Bezieher des Mindestlohns entspricht dies einer Anhebung um 50 Prozent.

Venezuela, das wegen seiner Erdölvorkommen in den siebziger Jahren eine wirtschaftliche Blüte erreichte, erlebt seit Anfang dieses Jahrzehnts wegen der sinkenden Ölpreise einen krassen wirtschaftlichen Niedergang. Die Reallöhne sind inzwischen um ein Drittel gesunken, und für dieses Jahr wird mit 70 Prozent Inflation gerechnet. Die Auslandsschulden des Landes betragen 33 Milliarden Dollar. Mit der Sparpolitik und der Subventionsstreichung will die Regierung Auflagen des IWF erfüllen, was dieser zur Bedingung für neue Kredite gemacht hat.

Kredit von Spanien

Spanien wird Venezuela mit einem „beträchtlichen“ Kredit unter die Arme greifen. Dies gab Außenminister Francisco Fernandez Ordonez am Donnerstag in Madrid vor seinem Abflug nach Moskau bekannt, ohne Zahlen zu nennen. In den spanischen Medien wurden 600 Millionen Dollar genannt. Diesen Betrag habe Regierungschef Felipe Gonzalez seinem Amtskollegen Perez in einem zugesichert und dabei auch einen teilweisen Schuldenerlaß in Aussicht gestellt, berichtete die Zeitung 'Diario 16‘.