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Unterm Himmel von Findorff

■ Über die Läuferinnen und Läufer des Volks, die ungleichen Geschäfte der Türkinnen und des Holländers auf dem Flohmarkt und die Pirouettedes langen Senators

Dieser Himmel, so nuancenreich wie unausweichlich grau liegt über der Stadt und über Findorff auch. Ein Himmel, der den Himmel vergessen macht, obwohl Möwen drunter herumirren, der alles in fahles, totes Licht taucht und einem das Leben unter der Bettdecke erstarren läßt.

Unter diesem Himmel tobt sich in Findorff das Leben aus. Bewegt sich doch. Heftig. Kommt gerade, so um die Mittagszeit, an

gekeucht, ist überwiegend, aber nicht ausschießlich männlich, läuft in die weißen Fäden ein, die das Ziel markieren. Hat's geschafft. War mal 550fach gestartet, ist jetzt ein wenig grippedezimiert. Hat zwanzig Kilometer zurückgelegt, zuzüglich 10, die schon am 15. Januar abzuleisten waren, und 15 Kilometern vom 5. Februar. Per Saldo: 45 km gelaufen, mehr als der Marathonlauf lang ist. Der kommt am 9. April.

Merkwürdig, was die alle, fast alle, kurze Schrittchen machen. Wie Nähmaschinen. Und auf dem Rücken klebt der Matsch des BürgerInnenparks Klacks für Klacks. Vorne sehen sie normal aus, kein Matsch, normale Märtyrergesichter. Einer hat seins in eine Zipfelmütze verpackt. Paßt auch irgendwie.

Bloß untenrum. Untenrum tragen manche so Trikots, die Beinkleinder der Trapezkünstler, eng und schillernd. Aus Plaste und bestimmt mächtig elaste. Tragen auch die Männer, obwohl die Elaste so abzeichnet. Viel demonstrativer als die phallusaustellenden Hosenställe auf Bauern-Breughels Bauernhochzeiten. Sonst weniger beeindruckend. Daß die textile Ausstattung beim Sport neben dem „Gelobt sei, was hart macht“ das Eigentliche ist,

ist mir geläufig geworden und längst kein Grund für Kapitalismuskritik mehr. Aber warum nun grade diese textile Ausstattung, die zugleich stretchmäßig leugnet, was sie ausstellt. Konsumistische Fortentwicklung der normalen protestantischen Heuchelei, nach der nicht da ist, was nicht da sein soll, oder was?

Immer noch trippeln numerierte HeldInnen vorbei, fern des Ziels vorbei. Nähmaschinieren auf die Menschen zu, die mit Elektrolytgetränken in Plastikbechern auf sie warten, reißen die Becher aus der Hand, stürzen sie zwischen Schnaufern runter, lassen sie, entleert, fallen. Ein Herr kriecht den leeren Bechern nach, sammelt sie auf. Elektrolyt und Entsorgung im Startpreis von 15 Mark inbegriffen.

15 Pokale in Gold und FastSilber - nicht immer mit Onyxststiel, aber selten ohne Marmorimitat am Fuß, und einer von der AOK-Bremen „Zur Unterstützung des Sports„-harren der SiegerInnen aller Geschlechter und Ältegrade auf einem nackten Tisch unter dem Himmel von siehe oben. Zur Siegerehrung ist es noch weit. Gleichzeitig feiern die Stammgäste der Gaststätte Brase in der Hemmstraße das überstandene 75-jährige Jubi

läum, die Herren an der Theke, die Damen am Tisch. Die Herren stumm, die Damen empört darüber, daß es irgendwo „immer nur kalte Ente“ gab, „immer nur kalte Ente“.

Auf dem Flohmarkt dem Volkslauf gegenüber gehen die Geschäfte schlecht. Beklagt sich ein Händler. Türkinnen sitzen hinter ihren Auslagen und verkaufen nicht, Türken laufen um die zum Kauf angebotenen Automobile herum und kaufen nicht. Nur der Holländer schlägt für 35 Mark fünf, sechs, sieben, acht, neun grüne Blattpflanzen aus Plaste und Elaste los, alles echt, eine wie die andere.

Die letzten LäuferInnen des Volkes - darunter munter und eine Piroette der Leichtfüßigkeit auf einem Bein demonstrierend, der lange Sozialsenator, Hennig Scherf haben es geschafft. Wir kommen zur Ehrung der Schnellsten und Beweglichsten. Es sind Jeoffrey Martin vom SV Werder, 2 Stunden, 22 Minuten und 55 Sekunden und Abonenmentssiegerin Waltraud Beyer von der Laufgemeinschaft Bremen Nord, zugleich schnellste in der Klasse der Über-50-Jährigen: 3 Stunden und 25 Sekunden. Himmel über Findorff, Du bremst sie nicht.

Uta Stolle

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