: Denunzianten von Staats wegen
Als im Herbst 1977 der Austausch der Stammheimer Gefangenen gegen den entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer gefordert wurde, bestand die Regierung Schmidt auf einem moralischen Imperativ: Häftlinge, die wegen Mord verurteilt seien, könnten unter keinen Umständen freigelassen werden. Das fordere allein schon das Rechtsempfinden der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung.
Knapp zehn Jahre später galt dieser Leitsatz nicht mehr. Im Rahmen eines Gesetzespakets zur „inneren Sicherheit“ präsentierte das Ministerduo Zimmermann/Engelhardt den Vorschlag, in das bundesdeutsche Strafrecht den Kronzeugen einzuführen. Zumindest für die CSU war klar: Wenn diese Regelung Erfolge bei der Terroristenjagd bringen soll, dann müssen auch Leute, die einen Mord gestehen, dann aber mit den Behörden „kooperieren“, straffrei ausgehen können. Erwartet wird von einem Kronzeugen, daß er - über das Geständnis in eigener Sache hinaus - Mittäter belastet und der Bundesanwaltschaft Informationen über die „terroristische Vereinigung“ gibt, der er angehören soll. Verrat und Denunziation soll mit Strafnachlaß oder sogar Straffreiheit belohnt werden.
Die ursprüngliche Version der Kronzeugenregelung schien direkt aus dem Hause Rebmann zu stammen. Unabhängig von der Straftat des Betroffenen (also auch bei Mord) sollte die Bundesanwaltschaft in eigener Regie entscheiden können, ob jemand als Kronzeuge akzeptiert wird und in welchem Umfang sein Verrat honoriert wird. Damit wäre die Bundesanwaltschaft zum alleinigen Herren der Verfahren geworden, außer ihr würde niemand den „Kronzeugen“ zu Gesicht bekommen. Der erste empörte Aufschrei in der Öffentlichkeit veranlaßte vor allem die FDP und ihren Justizminister zu einer kosmetischen Korrektur. Sie schlugen vor, den Straferlaß davon abhängig zu machen, daß der zuständige Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof (BGH) den Vorschlägen der Bundesanwaltschaft zustimmt.
Innerhalb der Partei konzentrierte sich die Erregung jedoch weniger auf die prozessualen Fragen als vielmehr auf die symbolisch hochrangige Frage: Kann es Straffreiheit für Mord geben? Ein FDP-Parteitag verlangte hier kategorisch eine Änderung. Diese Debatte verhinderte allerdings weitgehend eine Diskussion über den Sinn oder Unsinn des Kronzeugen. Welche Werte vertritt schließlich eine Justiz, deren Urteile auf Verrat basieren?
Vergeblich verwiesen die Kritiker auf Italien, wo man Kronzeugen in Verfahren gegen Rote Brigaden bereits länger eingesetzt hatte. Die Folge: In der zweiten Instanz gab es massenhaft geplatzte Prozesse, nachdem sich herausgestellt hatte, daß Kronzeugen um des eigenen Vorteils willen hemmungslos gelogen hatten. Selbst ein Rückblick auf RAF -Prozesse im eigenen Land hätte den Koaltionsjuristen genügend Aufschluß über die zweifelhafte Rolle des Kronzeugen als Beweismittel geben können. Die Quasi -Kronzeugen der 70er Jahre - Ruhland, Gerhard Müller und Volker Speitel - hatten der Willkür im Gerichtssaal bereits Tür und Tor geöffnet. Nachdem die Bundesanwaltschaft mit Ruhland in der Verhandlung mehrfach Pech gehabt hatte, tauchten Speitel und Müller als Belastungszeugen gar nicht mehr in Person auf, sondern die Bundesanwälte operierten mit dem Belastungsmaterial, das aus richterlichen Vernehmungen stammte, unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Als „nicht erreichbare Beweismittel“ waren beide für Gericht und Verteidigung abgetaucht.
Nach diesem Muster soll nun auch der künftige „Kronzeuge“ funktionieren. Die morgen dem Rechtsausschuß des Bundestages vorliegende Fassung enthält gegenüber den Entwürfen von Mitte letzten Jahres zwei Veränderungen, die wenigstens den Schein der Rechtsstaatlichkeit wahren sollen. Zum einen ist der Kreis, der über einen Kronzeugen entscheiden soll, erweitert worden. Nicht mehr nur Rebmann und sein Ermittlungsrichter, sondern der gesamte zuständige Strafsenat des BGHs soll für die Begutachtung des Denunzianten zuständig sein. Und die Mindeststrafe für Mord soll drei Jahre betragen, damit ein Kronzeuge, der einen Mord gesteht, nicht gleich auf Bewährung entlassen werden kann.
Die Kritik der juristischen Standesvertetungen bleibt allerdings fundamental. Angefangen vom mehrheitlich konservativen Deutschen Richterbund über die in der ÖTV organisierten Richter und Staatsanwälte bis hin zu den Anwaltsorganisationen - niemand will sich mit dem organisierten Verrat als Rechtsinstitut gemein machen. Schon die Erfahrungen mit der „kleinen Kronzeugenregelung“ im Bereich der Drogenkriminalität seien „durchgängig unerfreulich“, meint der Berliner Vorsitzende der Strafverteidigervereinigung, Hajo Erich. Es gebe ein regelrechtes Wettrennen, wer als erster jemanden verpfeifen könne, um für sich selbst etwas herauszuschlagen. Entsprechend glaubwürdig seien die Aussagen. „Gerichte, die auf sich halten“, so Erich, „benutzen solche Aussagen nur in Verbindung mit anderen, harten Beweismitteln.“
Selbst innerhalb des Repressionsapparats melden sich kritische Stimmen gegen die Kronzeugenregelung. Leute aus dem harten Kern der RAF, so ihr Argument, seien mit Drogendealern überhaupt nicht zu vergleichen. Niemand werde sich als Kronzeuge zur Verfügung stellen und seine ehemaligen GenossInnen verraten. Diese Gruppe im Staasapparat setzt deshalb auf Angebote an Aussteiger - ohne Zwang zur Denunziation. Mit einer Kronzeugenregelung dagegen würde dieses bislang ohnehin recht vage formulierte Angebot völlig konterkariert.
Jürgen Gottschlich
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