: Jahrhundertchance
Zur Abrüstungskonferenz in Wien ■ K O M M E N T A R
Wenn das Wort von der Jahrhundertchance - ein Begriff, der zur Zeit im Zusammenhang einer neuen Koalition im Schwange ist - tatsächlich einen Sinn macht, dann für die heute beginnende Verhandlungsrunde um den Abbau konventioneller Waffen in Europa. Nato und Warschauer Vertragsstaaten sitzen sich erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg in einer Situation gegenüber, in der der Status quo der Nachkriegsgeschichte neu definiert werden könnte. Der Umbruch in der Sowjetunion und den osteuropäischen Staaten ist bereits soweit fortgeschritten, daß eine Restauration des kalten Krieges auf Moskauer Betreiben ausgeschlossen scheint. Politische Visionen vom gemeinsamen europäischen Haus, intensivere Zusammenarbeit zwischen EG und Comecon-Staaten und nicht zuletzt die Entwicklungen in Ungarn und Polen sind auch für die zweifellos noch vorhandenen Alt-Stalinisten und Bremser im sowjetischen Apparat irreversibele Entwicklungen.
Schon deshalb verbietet sich die im Moment in westlichen Kreisen gepflegte Parole, man könne die Konzeption zukünftiger Ost-West-Politik nicht vom Schicksal eines einzigen Mannes abhängig machen. Dies gilt vor allem für den militärischen Bereich. Mitteleuropa, entlang der Demarkationslinie der beiden Blöcke, ist vollgestopft mit militärischem Gerät und einer Truppenkonzentration, die auf der Welt nicht ihresgleichen hat. Der ökonomischen Malaise im Osten und Gorbatschow Reformwillen ist es zu verdanken, daß jetzt erstmals nach Jalta die Chance besteht, diesen Wahnsinn substantiell anzugehen.
Es ist wichtig, daß die Bevölkerung Westeuropas dies begreift, und die Wiener Verhandlungsrunde nicht kopfschüttelnd als unverständliche Erbsenzählerei ad acta legt. Der massive Abbau der konventionellen Tötungsmaschinerie und die Herstellung der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit ist der Schlüssel zum Frieden in Europa. Davon ist die Nato aber noch weit entfernt. Der Auftakt in Wien bestätigt alle pessimistischen Prognosen bezüglich eines grundlegenden Umdenkens innerhalb der Nato. Da redet der britische Außenminister im Namen der Nato polemisch gegen radikale Abrüstungsinitiativen als militärischer „Striptease-Wettbewerb“, gegen den der Westen sich verwahrt, und präsentiert im selben Atemzug die alten Taschenspielertricks der Abrüstungsverhinderer als großen Wurf der Nato. Abrüsten immer nur in den Bereichen, in denen die andere Seite quantitativ überlegen ist, abblocken da, wo es an die eigenen Arsenale geht. Mit dieser Strategie sind die westlichen Hardliner auf dem besten Weg zur Self -fullfilling-Prophecy. Je weitgehender man Gorbatschow eine spürbare Entlastung des Militärhaushalts verweigert, um so stärker wird seine Position gefährdet. Um so eher kann man dann darauf verweisen, daß Abrüstung angesichts der bedrohten Position des großen Reformators über ein paar kosmetische Korrekturen nicht hinausgehen darf. Es liegt an uns, dieses Spiel nicht zuzulassen.
Jürgen Gottschlich
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