: Das schlechte Neue
Die neue rot-grüne Koalition in Berlin ist perfekt ■ K O M M E N T A R E
Wer wen über den Tisch gezogen hat, diese Frage ist im Grunde jetzt schon Schnee von gestern - auch wenn die AL zu Recht schlucken oder dagegen protestieren wird, daß ausgerechnet die Verkehrsplanung an die SPD-Betonfraktion gefallen ist. Das Risiko eines Eklats bei der SenatorInnenwahl durch die SPD wäre extrem hoch gewesen, wenn der Gewerkschaftsbonze Wagner nicht noch mit Verkehr bedient worden wäre. Gemessen daran, daß beide Parteien nicht auf die Regierung und schon gar nicht auf die Koalition vorbereitet waren; gemessen daran, daß die AL vor der Wahl in einen dramatischen Auszehrungsprozeß hineinsteuerte, ist das Ergebnis allemal erstaunlich. Noch nie hat eine Regierung eine so umfassende Reformprogrammatik vorgelegt - geradezu ein Hundertfünzig-Seiten-Weißbuch über die Zukunft. Das gilt auch trotz all der widersprüchlichen Elemente, trotz aller biederen Friedenssehnsucht, trotz aller alternativen Moral, die die SPD inzwischen von der AL übernommen hat. Es ist nicht das Programm einer attraktiven Metropole, es ist das Programm für eine Stadt, in der es sich besser leben läßt.
Gerade weil gegenwärtig die AL den Erfolg als eine halbe Niederlage zu verkraften versucht, muß betont werden, daß insbesondere ihre Verhandlungskommission glänzend gearbeitet hat. Sie hat zwar kaum die erwünschten demonstrativen Erfolge im Bereich Innere Sicherheit und der Alliiertenfrage heimbringen können, sie hat aber immerhin die sachliche Seite der ökologischen Wende, der Frauenpolitik und auch der Verkehrspolitik festgeschrieben. Vor allem hat es die Kommission fertiggebracht, unter einem mörderischen Termindruck die Partei zu binden, handlungsfähig zu erhalten und die Diskussion der Mitglieder zu ermöglichen. Daß das hohe Tempo die basisdemokratischen Besinnungsprozesse überfordern mußte, war unvermeidlich. Die AL ist jetzt schon zu einer anderen Partei geworden. Sie mußte sich abrupt eine Struktur auferlegen, die zur geforderten Zeit Entscheidungen erzielt. Angesichts des Angriffskessels von Wirtschaft, CDU, Presse und Bundespolitik ist diese Entwicklung unumkehrbar.
Nicht einen Funken Triumphalismus für die neue Regierung. Eine kompetente, aber glanzlose SenatorInnenliste, eine Regierung der SachbearbeiterInnen. Die Zukunft beginnt nicht mit Visionen, nicht mit Charisma. Die CDU konnte in den postmodernen Glanz, in die 750-Jahrfeier, in die Kulturhauptstadt flüchten. Rot-Grün wird von der ersten Stunde an zähen Reformalltag bieten. Anfangserfolge sind nicht im Angebot. Die Wohnungsnot, die Arbeitslosigkeit werden erst einmal bleiben. Die 7.000 Wohnungen pro Jahr haben noch keine Grundstücke. Regiert werden muß gegen einen Apparat, der durch Jahrzehnte von Filz und durch sieben Jahre CDU-Ämterpatronage deformiert wurde. Die ökologische Wende wird erst einmal mehr Erblasten aufdecken als eine erneuerte Umwelt bieten. Das Finanzbudget und besonders das Zeitbudget sind knapp. Die Angstkampagne läuft. Die Industrie will Investitionen stornieren, die CDU alarmiert die Alliierten, die Bundesregierung sieht ohnehin ihre einzige Überlebenschance in einer gescheiterten rot-grünen Koalition. Die Verblüffung der Berliner schlägt um. Alle Vorurteile, die ganze Ungleichzeitigkeit dieser geschichtsverlassenen Frontstadt in Mitteleuropa wird agressiv. Der Normal-Berliner sieht seine Normalität in der Vergangenheit und in der Zukunft nur die Ökodiktatur einer Minderheit.
Trotzdem: eine schwache Regierung kann auch ein guter Anfang sein. Sie wäre der personifizierte Anspruch an Berlin, ein Anspruch, Kräfte der Veränderung zu mobilisieren, eine Art Selbstbefreiung vom Krankenlager am Bundestropf. Diese Regierung kann nicht gegen die Stadt und schon gar nicht ohne das vehemente Engagement des kritischen Teils der Bevölkerung regieren. Allerdings hört man von der Linken in dieser Stadt außer Grundsatzmäkelei wenig. Sie sollte wissen, daß sie mit der Regierung die Chance hat, von einer Minderheit zur Mehrheit zu werden. Rot -Grün: das ist das schlechte Neue, das wir begrüßen. Das gute Alte hat uns gereicht.
Klaus Hartung
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