Ornament und Rationalisierung

■ „Den Beinen der Tiller-Girls entsprechen die Hände in der Fabrik“ - Anmerkungen zu Siegfried Kracauer

Bernd-Erich Wöhrle

Wer den Taylorismus als Produktionsprinzip des Kapitalismus und Revueästhetik, Fließbandarbeiterinnen und Tanzgirls derart anschaulich in eins setzt, und wer schreibt: „der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse ihrer scheinbaren Oberflächenäußerung schlagender zu bestimmen als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst“, ist der Beobachtungstreue, der Kunst der Darstellung und dem begrifflichen Denken verpflichtet, ist Essayist und Soziologe. 1889 in Frankfurt/Main geboren, war Kracauer außerdem Architekt - ohne je ein Haus gebaut zu haben -, Filmkritiker, Philosoph und Romanautor. 1915 promovierte er in Berlin mit einer Arbeit „Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17.Jahrhundert bis zum Beginn des 19.Jahrhunderts“ zum Dr.Ing. Mit dem Pennäler Adorno übte er an Samstagnachmittagen statt Klavieretüden Kants Kritik der reinen Vernunft, bis jener in einem Rückblick gestand, er habe von Kracauer mehr gelernt als von allen akademischen Lehrern. Bloch und Benjamin freundschaftlich verbunden, teilte er deren Schwäche für Jahrmärkte, ihren Budenzauber und Lakritzegeschmack und die Überzeugung, der Zeitgeist finde sich eher als Fundstück im Kramladen eines Trödlers als in kulturamtlichen Verlautbarungen.

1921 wurde er fester Mitarbeiter der 'Frankfurter Zeitung‘, einem liberalkonservativen Blatt. In dieser Zeitung erschienen als Erstveröffentlichung fast alle Schriften Kracauers, die er in der Weimarer Zeit schrieb.

Das Eingangszitat über die Beine der Tiller-Girls ist Teil eines Essays, der im Juni 1927 in der Frankfurter Zeitung veröffentlicht wurde. In diesem Essay mutmaßt Kracauer, die beginnende Unterhaltungsindustrie müsse als ästhetischer Reflex auf die Produktionsprinzipien des modernen Kapitalismus verstanden werden. „Die Tiller-Girls lassen sich nachträglich nicht mehr zu Menschen zusammensetzen, die Massenfreiübungen werden niemals von den ganz erhaltenen Körpern vorgenommen, deren Krümmungen sich dem rationellen Verständnis verweigern, Arme, Schenkel und andere Teilstrecken sind die kleinsten Teilstrecken der Komposition.“ Und Kracauer kommt zu einem Schluß, der sich in zwei Sätze zusammenfassen läßt: Die Zurichtung zu kalkulierbaren Massenteilchen im Produktionsprozeß der Fabrik genügt dem Kapitalismus nicht, er macht diese Zurichtung auch noch ästhetisch goutierbar: in der Gruppierung der Beinbewegungen der Tillergirls zum Massenornament. Detektiv Kant

Die Frage, ob der Taylorismus seinerseits in der abendländischen Ratio gründe, hatte Kracauer wenige Jahre vorher gestellt. In den Jahren 1922 bis 1925 schrieb Kracauer die Abhandlung „Der Detektivroman. Ein philosophischer Traktat“. Die abendländische Vernunft wird durch den Detektiv verkörpert. Die Vielfalt der Erscheinungswelt reduziert sich ihm auf Indizien. Er kombiniert diese, überführt dadurch den Täter und beweist als Resultat, was Bedingung des ganzen Unternehmens war: die Gültigkeit logischer Prinzipien. „Der Detektivroman“ ist eine Abrechnung mit Kant. Dessen Vernunftbegriff steht paradigmatisch für die abendländische Ratio. Das Transzendentalsubjekt Kants verkürzt die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt zum Demonstrationsobjekt der eigenen logischen Akte. Am Ende sieht es wiederum nur sich selbst bestätigt. Entschlossen gerät ihm die Leere des Zirkel zu einem quod erat demonstrandum. Kracauer beschreibt denn auch den Handlungsfaden seines Detektivromans wie folgt: „Die Menschen in ihm setzen sich aus Konfigurationen unverbundener Seelenpartikel zusammen, die dem von der reinen Ratio frei konstruierten Handlungsverlauf erst nachträglich angepaßt werden.“

Fast 25 Jahre vor der Dialektik der Aufklärung geschrieben, nimmt Kracauers Detektivroman den Grundgedanken der Horkheimer/Adorno-Studie schon vorweg: Vernunft, die ihre Voraussetzungen nicht mehr reflektiert, schlägt um in Mythos und wird dadurch totalitär.

Was der Soziologe Kracauer analysierte, die Zerlegung des Individuums in unverbundene Einzelmomente, erzählt der Schriftsteller Kracauer in dem 1928 anonym veröffentlichten Roman Ginster. Von ihm selbst geschrieben. Name und Anonymität des Romans sind programmatisch. Ginster, das ist auch der Name eines Strauches, der mit Vorliebe an Uferböschungen, auf stillgelegten Bahngleisen und verlassenen Schrottplätzen wächst. Der gleichnamige Held des Romans weiß nur eines ganz sicher: „auf keinen Fall fest an einem Ort bleiben und in einem Zweizimmerberuf wohnen“. Ginster will keine Identität mehr haben, weil er weiß, daß er ohnehin keine mehr hat. Er wählt den Absturz in die Anonymität. Der durchrationalisierte Betrieb der Moderne dringt mit einem Vacuumcleaner auch in die letzten Nischen ein. Da bleibt nur noch die Identifikation mit dem Angreifer, die Mimesis an die Auflösung.

Kracauer ahnte, daß der Nationalsozialismus sich des auf „gerade Teilstrecken“ rationalisierten Ichs bemächtigen würde. Zur abstrakten Blume eines stadiongroßen Massenornaments stilisiert, erschiene diesem partikularisierten Ich die eigene mechanische Leere als Macht. In dem Bemühen, die unzerlegbare Würde des Ichs zu retten gerät Kracauer allerdings auf metaphysische Abwege und orakelt über den „Grund des Menschen“ oder das „Wesen des Menschen“, was gewahrt werden müßte. Er greift damit zu den Sprachklischees einer konservativen Kulturkritik, deren Sprachbilder er ansonsten, in den Polemiken gegen die Anthroposophen zum Beispiel, zu geißeln versteht. Mitunter spricht er sogar von einer Rückbindung an die Volksgemeinschaft, einem zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr schlafenden Ungeheuer. Unter Tarif

1930 dann jenes Buch, das Kracauer berühmt machen sollte: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Auch hier wieder eine Analyse der Oberflächenphänomene als da sind: Wärmehallen, Vergnügungsparks, Arbeitsgerichte und Schriften des Reichskuratoriums für Wirtschaftlichkeit. Kracauer gibt uns eine Stilprobe aus diesen Schriften: „Rationalisierung ist die Anwendung aller Mittel, die Technik und planmäßige Ordnung bieten, zur Hebung der Wirtschaftlichkeit und damit zur Stellung der Gütererzeugung, zu ihrer Verbilligung und auch zu ihrer Verbesserung“, und er fügt hinzu: „Das einzige, was dieser Definition fehlt, ist das Wort Mensch.“ Kracauer sucht auch das Vormittagslicht der Arbeitsgerichtssäle auf und bemerkt, daß dieses Licht zusammen mit dem Licht der Öffentlichkeit folgenden Effekt ergibt: „Keine Schminke bringt die Mädchengesichter zum Erblühen, und jeder Hautpickel ist bei den Männern in Großaufnahme zu sehen... Während sie reden und hocken und warten, wird die Erinnerung an jene Musterungslokale wach, in denen elende nackte Menschen kriegsdienstverwendungsfähig geschrieben worden sind. Das unbarmherzige Licht rührt die Erinnerung auf. Genau wie es dort weniger die Nacktheit als den Krieg bloßgestellt hat, so enthüllt es hier nicht eigentlich armselige Menschen, sondern Zustände, die armselig machen.“ Kracauer zeigt uns einen älteren Provisionsvertreter, der in einem dieser Arbeitsgerichtssäle um sein Ansehen und seine Wiedereinstellung kämpft, mit lateinischen Zitaten um sich wirft, erwähnt, sein Sohn besuche die Oberprima und klagt, wer müsse wohl wie Ludwig der 15. für die Sünden der Vorgänger büßen, um daraufhin von dem Vorsitzenden des Gerichts milde belehrt zu werden, er meine wohl Ludwig den 16. Dieser ältere Provisionsvertreter wird wenig später die Verzweiflung jenes Kaufmanns geteilt haben, dessen Inserat in einer großen Tageszeitung Kracauer uns ebenfalls überliefert: Ich pfeife auf Tarif.

Lohn und Brot ist mir lieber. Welch. Arbeitgeb. möchte gern ein. zuverläss. viels. gebild. Kaufm., Ende 40er, für Innen und Außendienst als Mitarb.

Die persönliche Situation Kracauers hatte sich 1930 zugespitzt. Die einst liberalkonservative 'FZ‘ war mehr und mehr nach rechts gedriftet. Die Herausgeber glaubten, auf diese Weise die Nazis konservativ einbinden zu können. Dies erwies sich endgültig als Illusion, als 1929/30 die IG -Farben 49,5Prozent der Verlagsanteile erwarb. 1931 teilte ihm die Zeitung mit, er solle sich nach einem Nebenerwerb umsehen. Im Februar 1933 flüchtete Kracauer nach Paris. August 1933 erreichte ihn dort die Kündigung seiner festen Mitarbeiterstelle.

Ein früher Traum Kracauers erwies sich als Menetekel. Ihm träumte, ein fremder Stamm habe ihn geraubt. Mit jähem Erschrecken erwachte er. Um welchen Stamm und um welche Beraubung es sich handelte, zeigte sich sehr bald in Kracauers Heimatstadt Frankfurt. Die Abiturjubiläumsschriften Frankfurter Gymnasien erwähnten die reinrassigen Abiturientenjahrgänge im vollen Wichs ihrer bis dahin erworbenen Titel, die jüdischen Mitabiturienten hingegen waren als Nummern gedruckt. Zuerst der Raub der bürgerlichen Anerkennung, dann die physische Liquidierung. Bargeldkomponist

Während des Pariser Exils entstand Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit. Die Maxime des Komponisten Offenbach, Melodien müßten wie Bargeld sein (de la melodie argent comptant) bezeichnet einen Anfang: den Beginn der Unterhaltungsindustrie. Die große Zeit der Operetten Offenbachs, das ist die Zeit zwischen der Weltausstellung 1855 und der von 1867. Das ist die Zeit des „nouveau capitalisme„; Finanzkapital, das an die Börse geht, mit Grund und Boden spekuliert und - immer auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten - die Kultur entdeckt. Die Zeit der Selbstentmündigung des Bürgertums, das sich der Diktatur Louis Napoleons unterwirft, um sich in vermeintlicher politischer Ruhe zur Finanzaristokratie zu mausern. Politik wird durch Entertainment ersetzt. Die Presse, einst Forum öffentlich kritischer Auseinandersetzung ist zur „petite presse“ geschrumpft, die Börsennachrichten druckt, sich auf Gesellschaftsklatsch beschränkt und ernsthaft die Frage erörtert, ob der Groom - ein aus England importierter Modehund - noch en vogue sei. Das Second Empire Louis Napoleons ist die Zeit einer mondänen Boheme, die den Boulevard Italiens besetzt und dort in goldkandelaber-, spiegelglassaal-verzierten Cafes ihre eigene Exzentrizität bewunderte.

Außerhalb dieses Boulevards begann alsbald ein exterritorialer Bereich: die Arbeiter- und Kleinbürgerviertel. Verirrte sich einmal ein Armer auf diesen Boulevard, fiel er vielleicht Monsieur Villemessant, dem Herausgeber des 'Figaro‘, in die Hände, der diesen Armen neu einkleidete, mit ihm soupierte, Geld schenkte und am nächsten Tag ein Anekdötchen darüber im 'Figaro‘ veröffentlichte: Armut als feuilletonistische Unterhaltung.

Diese Kurzcharakterisierung des Second Empire ist auch eine Inhaltsangabe der Operetten Offenbachs. Deren Libretto ist oft um Losgewinn und Börsenspiel herum aufgebaut:

?a hausse ou ?a baisse / Voila l'important; Kapital und Wunschzyklus setzen sich gegenseitig in Bewegung. Die Spielfiguren kommen direkt vom Boulevard: Kokotten, Lebemänner, Spekulanten und - gemeines Volk. Gesellschaftliche Widersprüche löst Offenbach a la Monsieur Villemessant - beide tafelten jahrelang im selben Cafe gutes Material für ein Couplet. Unmut über die Diktatur Napoleons III hüllt sich in eine Götterweltpersiflage: der faschingskostümierte Jupiter wird von seinen Mitgöttern bedrängt: „Abattons cette tyrannie. Ce regime est fastidieux.“ Ein kleiner angedrohter Operettenputsch wegen Langeweile.

Die Operettenwelt des Second Empire fand tatsächlich ein Ende, als die aus ihr Ausgegrenzten Barrikaden bauten: im Arbeiter- und Kleinbürger-Aufstand der Pariser Commune.

Diese Momentaufnahmen aus Kracauers Offenbachbuch zeigen, daß diese Studie trotz ihrer Schwächen - streckenweise verfällt Kracauer dem Oberflächencharme der Operettenwelt, und er parliert sich in die Geschwätzigkeit hinein - eine glänzende Anatomie auch des gegenwärtigen Amüsierbetriebs ist. Deutsche Spießerseele

Nach der Besetzung Frankreichs durch die Nazis flieht Kracauer 1941 nach Amerika. Für den jetzt 51jährigen ist dies noch einmal ein völliger Neuanfang. In New York findet er eine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Film-Library des Museum of Modern Art. 1947 veröffentlicht Kracauer die Studie From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film. Diese Studie ist eine Porträtzeichnung der deutschen Spießerseele, und sie räumt mit der Auffassung auf, Hitler sei eine Art Betriebsunfall der deutschen Geschichte. Die deutsche Spießerseele ist offensichtlich so disponiert, schließt Kracauer, daß sie die Freiheit der Weimarer Republik als Bedrohung empfand. Freiheit setzt sie mit Chaos gleich; um sich dagegen zu wehren, ist ihr die äußere und innere Tyrannei lieber.

Josef von Sternbergs Blauer Engel verdeutlicht diese Disposition: Professor Unrat, der kleinbürgerliche Spießer schlechthin, fällt den Verlockungen der Nachtclubsängerin Lola Lola anheim. In einem Akt der Selbstbestrafung läßt er sich von dem Direktor der Artistengruppe gängeln und überreden, die Kikeriki-Nummer unter dem Gespött und Gejohle des Publikums aufzuführen. Professor Unrat, das ist die deutsche Spießerseele, die sich für ihren Freiheitswunsch masochistisch bestraft, indem sie sich befehlen läßt, die sadistischen Wünsche des Publikums zu befriedigen. Wenig später hat diese Spießerseele die Gelegenheit, die Bestrafung gegen andere zu kehren. Kracauer weist darauf hin, daß KZ-Schergen ihre Opfer zwangen, solche Kikeriki -Nummern aufzuführen. 1934 dann ein Höhepunkt der deutschen Filmkunst: Leni Riefenstahls Triumph des Willens, eine filmische Apotheose des Nürnberger Parteitags 1934. Was einst noch harmlos als Beinbewegung der Tillergirls begann: die Zerlegung des Körpers in Teilstrecken, ist hier zur Reichssportfeldgröße herangewachsen. Massenornamente, tableaux vivants, die auf einen Wink des Führers hin Gleichschritt, Marsch - sich als apokalyptische Reiter in Bewegung setzen.

Erst 1958 erschien, mit wesentlichen Kürzungen gerade der entscheidenden Partien, eine deutsche Übersetzung der Kracauer-Studie. Die deutsche Spießerseele der Adenauer-Zeit war mit Verdrängen und Wiederaufbau beschäftigt. 1953 hatte sie schon genug damit zu tun, Wolfgang Koeppens Buch Das Treibhaus nicht zur Kenntnis zu nehmen. Hatte dieses Buch doch in der gerade neu gegründeten Bundesrepublik schon wieder jenen Typ des „Bierbanknationalisten“ entdeckt, der sich „mit Wollust von einem Diktator knechten läßt, wenn er selbst nur ein paar Stiefel bekommt, um nach unten zu treten“. In dieses Verdrängungsklima paßte Kracauers Studie nicht hinein. Und da die deutsche Spießerseele immer sensibel wird, wenn es ans sorgfältig gehütete Selbstbild geht, übersetzte sie den Originaltitel From Caligari to Hitler mit Von Caligari bis Hitler. Sie täuschte sich und anderen eine zeitlich zufällige Kontinuität vor, wo eine kausale gemeint war. Diese falsche Übersetzung eines Buchtitels beweist aufs sinnfälligste Kracauers eigene These, daß der Geist einer Epoche eher aus dem „Oberflächenphänomen“ einer Buchtitelübersetzung als aus so manchem tiefgründigen Wälzer erschlossen werden kann. Erst 1977 erschien eine vollständige Ausgabe, die den sinngerechten Titel trägt Von Caligari zu Hitler.

Das Werk Kracauers ist noch weit umfassender. Es beinhaltet soziologische Aufsätze, Abhandlungen zur Nazi-Propaganda, ein weiteres filmtheoretisches Werk, eine geschichtsphilosophische Betrachtung und unzählige in verschiedenen Zeitschriften verstreute Essays. Ihr Autor starb am 26.November 1966 in New York an den Folgen einer Lungenentzündung. Die Ausführungen dieses Essays konnten nur Streiflichter sein, die dennoch vielleicht eins deutlich machten: daß es Gründe - erschreckend viele - gibt, Siegfried Kracauer nicht nur im Monat seines hundertsten Geburtstages zu lesen.