: Stalins Entkulakisierung
■ Ausrottung der bäuerlichen Mittelschicht der UdSSR
Berlin/Moskau (taz/afp) - Über die sogenannten „Säuberungen“ Stalins in Partei und Staat wird in der Sowjetunion bereits seit einigen Monaten offen diskutiert. Wenige Tage vor dem Beginn eines Parteiplenums zu Fragen der Landwirtschaft wird in der Öffentlichkeit nun ein weiteres Tabuthema geknackt: das Schicksal der Landbevölkerung, für das der Diktator verantwortlich war, vor allem die systematische Ausrottung der bäuerlichen Mittelschicht, die als sogenannte „Kulaken“ verfolgt wurden.
Vor allem die Zeitung 'Selskaja Schisn‘ (Dorfleben), mit acht Millionen LeserInnen die zweitgrößte Parteizeitung nach der Prawda, dient als Forum für Leserzuschriften aus dem ganzen Land. Die seitenlangen Erinnerungen ähneln sich: „Ich habe mit eigenen Augen mitangesehen, wie Soldaten Kinderfleisch über offenem Feuer brieten“, schreibt ein alter Ukrainer. Zahlreiche Zuschriften schildern Fälle von Selbstmord und Kannibalismus. Daß Mütter aus Verzweiflung erst ihre Kinder töteten und dann sich selbst, war keine Seltenheit. Ein Ukrainer berichtet, wie die Bauern angewiesen wurden, dem Staat immer größere Mengen Getreide abzuliefern, bis sie schließlich aufgaben. Daraufhin wurden sie als Kulaken bezeichnet und ihre Güter konfisziert. Ein anderer Leser berichtet über die brutale Verschleppung seiner Familie auf einem Kahn nach Perm im Ural 1932. 'Selskaja Schisn‘ veranschlagt die Zahl der im Zuge der Entkulakisierung Ermordeten auf sechs bis zehn Millionen, auf drei bis vier Millionen wird die Zahl derer geschätzt, die 1932 bis 1933 Opfer einer Hungersnot wurden. Die Hungersnot wurde künstlich geschaffen, um die Menschen gefügig zu machen, ihren Willen zu brechen, schreibt ein Leser. Daß die Bauernschaft als soziale Klasse ausgerottet wurde, führte zu chronischen Mängeln in der modernen sowjetischen Landwirtschaft. In einer Fernsehsendung wurde jüngst darüber berichtet, daß Rußland es sich zu Beginn des Jahrhunderts noch leisten konnte, Weizen zu exportieren, anstatt ihn, wie heute, zu importieren.
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