Wissenschaftler, m, seriös, sucht Daten - (frühere oder) spätere Auswertung nicht ausgeschlossen

■ Von Kontaktanzeigen, universitärer Forschung und dem Verhältnis der Medien zur Wissenschaft

Beweisen können wir noch gar nichts“, sagt der Profesor am Donnerstag nachmittag in seinem Dienstzimmer an der Universität. „Wir haben ja bislang erst einige wenige Stichproben untersucht und bestenfalls erste Trends und Tendenzen gefunden.“

„Herr Professor“, sagt am darauffolgenden Freitag, 13.Januar 1989, circa 17.30 Uhr, die Moderatorin der Tele -Illustrierten des ZDF, „Sie machen zur Zeit eine wissenschaftliche Untersuchung, haben bisher etwa 1.500 Kontakt- und Heiratsanzeigen ausgewertet. Was gab denn den Anstoß, sich dieses Themas zu bemächtigen?“ „Soziales Verhalten“, hebt daraufhin der Wissenschaftler an, zeige sich in komprimierter Form dann, wenn es um Partnerschaft gehe. Insofern enthielten Kontaktanzeigen „zentrale Aussagen über die Gesellschaft“. Und dann zählt der Wissenschaftler auf, was alles geschehen ist mit Anzahl, Funktion, Form und Inhalt ebendieser Inserate in den vergangenen 30 Jahren und spart auch nicht mit Statements wie „Wir haben festgestellt...“ oder „Das ist ganz sicher“.

„Aha“, sagt sich da das Publikum im Studio und vor den Fernsehschirmen und folgt ihm gebannt. „Aha, so ist das also.“ Schließlich hat der Herr Professor ja eine wissenschaftliche Untersuchung gemacht und tritt nun damit sogar im Fernsehen auf. Dann muß doch alles wahr sein, oder?

Nun ist der Hochschullehrer, Diplom-Soziologe und Kommunikationswissenschaftler Dr.Klaus Merten von der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster alles andere als ein wissenschaftlicher Dünnbrettbohrer. Merten, der, bevor er 1985 nach Münster kam, bei Niklas Luhmann promovierte und anschließend in Mainz, Gießen und Bielefeld lehrte und forschte, zählt fraglos zu denen, die Empirie und Statistik ernst nehmen, aber auch ständig hinterfragen und sich mitunter erbitterte Wortfehden mit oberflächlichen Demoskopen liefern. Mertens Spezialgebiet ist die Inhaltsanalyse, eine Methode, mit deren Hilfe Texte unterschiedlichster Art auf besondere Merkmale hin untersucht werden.

Diese Methode zu verbessern war auch im Sommersemester 1988 Mertens Ziel, als er gemeinsam mit dem Privatdozenten Dr.Helmut Giegler und 28 Studenten das auf zwei Jahre ausgelegte Forschungsprojekt „Kontaktanzeigen“ begann. Die Inserate von suchenden Singles stellten das Textmaterial dar, deren Merkmale, so Merten, fraglos als Indizien für aktuelle Normen, Werte oder den derzeitigen Lebensstil in der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1988 verstanden werden können.

Mertens methodischer Ansatz geht indes weit über die reine Inhaltsanalyse hinaus. Obwohl die Stichprobe von 1.500 Kontakt- und Heiratsanzeigen bereits beachtliche Datenberge verspricht, sollen auch noch Inserate aus den Jahren 1978, 1968 und 1958 untersucht werden. Um zu verhindern, daß Aussagen über den Wertewandel allein aufgrund der Anzeigentexte gemacht werden müssen, will das Münsteraner Forschungsteam anschließend mittels Fragebogen an Inserenten und Antwortende das Bild dieser Gruppen präzisieren. „Allerdings“, sagt Klaus Merten, „können wir frühestens im April mit Ergebnissen aufwarten, die etwas härter sind.“

Trotz massiver Einschränkungen hinsichtlich des tatsächlichen Erkenntnisstandes erweist sich die Kontaktanzeigenforschung in diesen Wochen als Medienrenner. Was am 21.November 1988 als Vorlesung an der Uni Münster erstmals an eine Teil-Öffentlichkeit drang, wandelte sich dank der Deutschen Presse-Agentur ('dpa‘) in nur wenigen Tagen zu „ersten wissenschaftlichen Erkenntnissen“ ('dpa‘), zu „einer gerade veröffentlichten Studie“ (WDR-Hörfunk, 9.1. 89) oder führt zu Beiträgen wie dem in der Tele -Illustrierten des ZDF. Ausgangspunkt für Sendungen von NDR, WDR, HR, SAT1 oder Radio ffn, Basis für Artikel in fast jeder Tageszeitung, in Szene- und Anzeigenblättern ist die längst noch nicht spruchreife Arbeit der Münsteraner Forscher. Und ohne es zu ahnen, hatte denn auch der Autor des „Streiflichts“ der 'Süddeutschen Zeitung‘ am 4.Januar die Nase vorn, als er es sich erlaubte, „die empirische Sorgfalt dieser Untersuchung“ des „Herrn Anzeigenforschers“ in Frage zu stellen. Wie auch immer: Eine Thema macht Karriere.

Wissenschaft gilt also auch heute noch als ein Synonym für Exaktheit und Richtigkeit. Ergebnisse der Wissenschaft, insbesondere der empirischen Gesellschafts- oder Sozialwissenschaften - und dies ist die eigentliche Crux, denn wer vermag schon „Wirklichkeit“ oder „Gesellschaft“ präzise nachzuzeichnen? - werden allzugerne als Abbildungen der Realtiät, als unumstößliche Wahrheiten aufgefaßt. Statistiken überzeugen. Da mögen die Forscher selber noch so sehr darauf hinweisen, daß ihre Ergebnisse nur einen Teilaspekt beleuchten, der unter bestimmten Bedingungen erfaßt und dadurch auch verändert worden ist. Letztlich tragen sie durch öffentliche Auftritte oder Publikationen in nicht-wissenschaftlichen Medien dennoch dazu bei, daß man ihnen glaubt bzw. glauben muß. Denn mit welcher Methode man sich in den Universitäten einem Phänomen genähert hat, ist nun einmal von Laien nicht zu überprüfen.

Transportiert werden Forschungsergebnisse, vorausgesetzt, sie sind populär genug, schließlich von den Medien. Daß hier aufgrund termingebundener Produktionsbedingungen häufig gar nicht mehr hinterfragt werden kann, auf welche Weise „wissenschaftliche Wahrheiten“ zustande gekommen sind, ist eine Binsenweisheit. Hinzu kommen die Orientierung an Kollegen und Konkurrenten sowie der Zwang, Meldungen großer Presse-Agenturen für bare Münze und ohne Vergleichsmöglichkeit ins Blatt nehmen zu müssen. Was Wunder, daß sich nun Medium um Medium um die als Enthüllungen und Enttarnungen von Kontakt-Inserenten mißverstandenen Vorabinformationen reißt. Liegt also die Verantwortung für Veröffentlichungen aktueller - und noch mehr bei nicht abgeschlossener - Forschung letztlich nicht doch allein bei den Wissenschaftlern?

Es ist nicht einfach, die Rolle der Hochschullehrer Giegler und Merten eindeutig zu beschreiben, sie klar als Täter und Opfer einer Kampagne zu identifizieren. Sicher ist, daß beide Kommunikationswissenschaftler nun in eine Zwickmühle geraten sind, aus der sie kaum noch herauskommen. Klaus Merten: „Als das ganze Medienspektakel losging, da habe ich gesagt: Also jetzt bloß geraderücken, was geradezurücken ist.“ Also gingen Giegler und er in die Offensive, Interviews inklusive. Merten: „Wenn ich gewußt hätte, was für einen Wirbel das gibt, hätte ich gleich gesagt, wir veröffentlichen noch nichts.“

Apropos Veröffentlichungen: Auch hier soll, da Giegler und Merten es auch andernorts bereits getan haben, dieser oder jener ermittelte Trend erwähnt werden. Kontakt- und Heiratsanzeigen haben in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur erheblich zugenommen, sie haben sich auch inhaltlich völlig verändert. Wünschten sich beispielsweise in den Inseraten der 'Zeit‘ im Jahr 1958 noch 70 bis 80 Prozent der Suchenden einen Partner aus „christlichem Elternhaus“ oder betonten sie eine ebensolche Herkunft, so sank dieser Anteil im Jahr 1968 bereits auf rund 50 Prozent herab, während heute nicht einmal zwei Prozent der Anzeigen Hinweise darauf enthalten.

Insgesamt zeige sich in den bisher analysierten Stichproben, so Klaus Merten, „daß wir heute in einer post -materielle Phase leben“. Werte wie „Vertrauen“, „Gefühl“ oder „Treue“ seien auffällig häufig in den Annoncen vertreten. Daneben zeichne sich allerdings auch die Tendenz zur Spezialisierung ab. So werde in vielen Fälen nicht mehr der Partner fürs Leben gesucht, sondern zum Teil ein Mann/eine Frau für jedes Hobby. Daß dies heute durchaus legitim und möglich sei, mache den eigentlichen Wertewandel im partnerschaftlichen und damit auch im gesellschaftlichen Leben aus.

Aber: Dies alles sind eben nur Trends und Teilergebnisse, auch wenn sie anderswo als Endresultate verkauft werden. Denn nach wie vor gilt: „Beweisen können wir noch gar nichts!“

Erhard Scherfer