: Proteste gegen „Lebenslänglich DDR“
■ Demonstration von Ausreisewilligen in Leipzig / „Reisefreiheit statt Behördenwillkür“ gefordert / Buchmesse ohne die Werke des DDR-Schriftstellers Lutz Rathenow / Kritik von SPD und Grünen an Bonner Ministern wegen Absage von DDR-Reisen
Leipzig/Bonn (dpa/afp) - Mehrere hundert Menschen haben am Montag abend vor dem Hintergrund der Leipziger Messe für ihre Ausreise in den Westen demonstriert. Sicherheitskräfte der DDR versuchten, den Protestzug aufzulösen. Dabei kam es zu Rangeleien, einigen Festnahmen und Behinderungen von Journalisten. In Bonn verurteilte die SPD am Dienstag das Vorgehen der Sicherheitskräfte. Der deutschlandpolitische Sprecher der Fraktion, Hans Büchler, erklärte, bei der Demonstration habe sich erneut gezeigt, daß die Bevölkerung zunehmend einfordere, was die DDR bei der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterschrieben habe.
Die Demonstration hatte im Anschluß an ein Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche begonnen. Der Protestzug, an dem auch viele Familien mit Kindern teilnahmen, führte von der Kirche durch die Innenstadt vorbei am Pressezentrum der Messe bis zum Marktplatz.
Mit Parolen wie: „Wir wollen raus!“, „Stasi raus!“ und „Reisefreiheit statt Behördenwillkür“ zogen die Demonstraten rund eine Stunde lang durch die Straßen. Einer rief: „Mein Urteil: Lebenslanglich DDR.“ Da die Geschäfte um diese Zeit noch geöffnet waren, beobachteten das viele Passanten.
Am Sonntag hatte in Leipzig die internationale Buchmesse ihre Pforten geöffnet. Rund 1.000 Verlage aus 23 Ländern werden dort bis zum Wochenende ihr aktuelles Angebot vorstellen. Zu den spektakulärsten Neuerscheinungen der DDR zählt Troika, das erste Buch des langjährigen DDR -Geheimdienstchefs Markus Wolf. Das Buch von Günther Guillaume, dessen Entlarvung als Spion 1974 zum Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt geführt hatte, soll jedoch auf absehbare Zeit nicht in der DDR erhältlich sein. Das Buch, das im Militärverlag in Ost-Berlin erschienen ist, wurde offenbar nur einem kleinen Kreis von Lesern zugänglich gemacht.
Drei Bücher des DDR-Schriftstellers Lutz Rathenow, die im bundesdeutschen Piper-Verlag erschienen sind, wurden am Montag vom Stand auf der Buchmesse entfernt. Die Maßnahme wurde mit dem Hinweis begründet, die drei Textsammlungen seien unter Umgehung der DDR-Zollvorschriften eingeschleust worden. Bei den Büchern handelt es sich um Das Schlimmste ist schon vorgesehen, Zangengeburt, und Boden 411“. Allerdings hatte der Mitteldeutsche Verlag bereits vergangenen Woche in letzter Minute darauf verzichtet, einen Gedichtband des Autors herauszugeben. Als Begründung hieß es, der Verlag habe nach Äußerungen Rathenows in westdeutschen Medien kein Vertrauen mehr in den Schriftsteller. In der BRD kritisierten mehrere Politiker am Dienstag, daß Wirtschaftsminister Helmut Haussman (FDP) und Bauminister Oskar Schneider wegen Schüssen an der Berliner Mauer ihre DDR-Reisen abgesagt hatten. Der frühere Leiter der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin, Günter Gaus, warnte davor, „Politik mit der Befriedigung von Gefühlen zu verwechseln“. Er habe nichts dagegen, daß Zeichen gesetzt würden, doch müßten sie wohlbedacht sein. Auch die SPD und die Grünen kritisierten die Reaktion der Bonner Minister.
Die Grünen-Bundestagsfraktion verurteilte den jüngsten Schußwaffengebrauch an der Mauer scharf, lehnte jedoch die Reaktion der Minister ab. Die Absage der Reisen nach Leipzig sei nichts weiter als die Neuauflage der Adenauer-Politik und sei als Politik des „Kalten Krieges“ zu bewerten, erklärte das Mitglied im innerdeutschen Ausschuß des Bundestages, Sigi Friess. Für die Grünen sei die vollständige Anerkennung der DDR als eigenständiger Staat die Voraussetzung einer Politik zur Verbesserung der Situation der Menschen in der DDR, ergänzte Frau Friess, die der Berliner Alternativen Liste angehört.
SPD-Parteichef Vogel befürwortete gestern vor Journalisten in Bonn das Verhalten seines Stellvertreters Rau, der dem DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker seine „Sorgen, Bedenken und Einwendungen“ über den „bedrückenden Vorfall“ vorgetragen habe.
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