Europa ruft, die Briten kommen

■ Der Tunnel unter dem Ärmelkanal wird aber nur den Großraum London dem Kontinent näherbringen

Ob der Tunnel nun, wie geplant, am 15.Mai 1993 eröffnet werden kann oder erst zwei Jahre später - gestoppt werden kann er jedenfalls kaum noch. Die letzten, die es mit der Parole „Stoppt die Franzosen in Calais“ versucht haben, waren die Mittelklassebürger der Grafschaft Kent. Und denen sagte Frau Thatcher prompt zu, die Schnellzugtrasse unter die Erde ihrer gepflegten Vorgärten zu verlegen.

Langsam, aber sicher, mit einer Geschwindigkeit von rund 200 Metern in der Woche, rückt Großbritannien dem Kontinent näher. Nur unweit des gähnenden Eingangslochs am Shakespeare Cliff zwischen den Häfen von Dover und Folkestone fräsen sich die messerscharfen, 8,36 meterweiten Schneideblätter in den Kalkstein unter der südenglischen Küste.

Die 200 Meter lange „Tunnel Boring Machine“ wird gegen den Fels gefahren, der bereitwillig nachgibt. Das subterrane Bohrungetüm bricht vorne den Stein, schleudert Fels und Schlamm dann mittels langer Förderbänder auf rückwärts abfahrbereite Waggons und betoniert den Schacht gleich im nächsten Arbeitsgang vollständig aus. Vorne Meeresgrund, hinten Kanaltunnel. So einfach ist das. Die Franzosen, so hört man, haben mit der ungleich härteren terra franca auf der anderen Seite größere Probleme.

Zwar ist noch fraglich, ob der Eisenbahntunnel unter dem Ärmelkanal wie geplant heute in 1.522 Tagen (am 15.Mai 1993) eröffnet werden kann. Doch daran, daß der „Chunnel“ (kurz für Channel Tunnel) bis Mitte der 90er Jahre fertiggestellt werden wird, zweifeln heute selbst seine Gegner nicht mehr.

Dabei hatte es genügend Hindernisse gegeben, an denen die Urheber und Ausheber des Tunnels bereits hätten scheitern können. Skeptiker befürchteten die Invasion ihrer noch nie eroberten Insel, Feuer im Tunnelschacht, den Import der Tollwut oder terroristische Anschläge auf das umstrittene Bauwerk, mit dem sich die Führer Großbritanniens und Frankreichs ein Denkmal setzen wollen.

Da mußten zunächst die protestierenden Anwohner des zu bauenden Tunnelterminals in der Nähe von Folkestone zum Schweigen gebracht werden. Im Umgehen von demokratischen Planungs- und Gesetzgebungsprozeduren erfahren, verweigerte die Regierung Thatcher die übliche öffentliche Untersuchung des Tunnelprojektes, ließ Tausende von schriftlichen Einwänden im Ruck-Zuck-Verfahren von einem machtlosen Parlamentsausschuß abfertigen und jagte anschließend das Bewilligungsgesetz per Sonderverfahren durchs Unterhaus.

Die Rebellion

im „Garten von Kent“

Dann mußten Anleger, Broker und Banken davon überzeugt werden, daß sich der Kauf von Tunnelaktien oder der Handel mit ihnen rentieren würde. Nach anfänglichem Zögern ließen sich die hochliquiden Investmentinstitutionen in der Londoner City mit sanftem Druck der „Bank of England“ und durch eine kostspielige PR-Kampagne schließlich in den Tunnel locken. Seitdem im November 1987 auch die letzte Anleihe (770 Mio.Pfund) von britischen Investoren, französischen Banken und japanischen Investmenthäusern angenommen worden ist, scheint die Finanzierung des 6,1 Mrd.Pfund (20 Mrd.DM) teuren Projektes gesichert.

Die wirklichen Probleme für „Eurotunnel“ begannen allerdings erst in diesem Jahr, und zwar nicht unter, sondern über der Erde. Denn seitdem die staatlche britische Eisenbahngesellschaft „British Rail“ im Januar 1989 die Route der neuen Schnellzugtrasse zwischen Folkestone und London bekannt gegeben hat, herrscht in der sonst lieblichen Grafschaft Kent Aufruhr. Tausende aufgebrachte Anwohner marschierten nur eine Woche später durch die Kleinstadt Maidstone, an deren Nordrand die Schnellzüge Paris-London mit 300 Stundenkilometern vorbeidonnern sollten. Mit 14.000 Unterschriften und der Unterstützung ihrer konservativen Abgeordneten sowie der Lokalverwaltung wollten die Bewohner Kents die Zerstörung ihres bisher noch heilen Mittelklasse -Idylls mit aller Macht verhindern.

Von zornigen Anwohnern zur Rede gestellt, mußte ein Planer von „British Rail“ zugeben, daß die geplante Trasse mitten durch eine neue Siedlung führte, die auf den veralteten Karten seiner Gesellschaft noch gar nicht verzeichnet war. Da half auch eine Anzeigenkampagne der manipulations -erfahrenen Agentur Saatchi&Saatchi nicht mehr: An einem sonnigen Februarsonntag marschierten 15.000 erboste Einwohner aus dem konservativ wählenden Pendlerparadies südlich von London mit ihren Protestplakaten („Stoppt die Franzosen in Calais“, „Keep the Frogs out of Kent“) vor der Downing Street 10. Da es keine gefährlichere Spezies gibt als aus ihrer wohligen Ruhe aufgestörte und rachsüchtige Mittelklässler Südenglands, reagierte die sonst so eiserne Lady sofort.

Was streikende Proleten wie die Bergarbeiter in der letzten Dekade vergeblich versucht haben, schaffte die „middle class“ aus Kent binnen Wochen: Frau Thatcher vollführte den wohl schnellsten „U-turn“ ihrer Regierungskarriere und befahl „British Rail“ kurzerhand, die Schnellzugtrasse zumindest dort zu vergraben, wo ihr auf dem Land konservative Wähler entgegenstanden. Im Großbritannien der 80er Jahre müssen halt nur die Richtigen auf die Straße gehen und demonstrieren.

Die nun leicht abgewandelte Trassenführung zwischen Folkestone und den Londoner Bahnhöfen von Waterloo und King's Cross soll nun zu einem Drittel durch Tunnel und einem weiteren Drittel hinter aufgeschütteten Böschungen verlaufen. Statt wie bisher geplante 1,2 Mrd.Pfund soll der nun etwas umwelt- und bürgerfreundlichere Streckenverlauf 1,7 Mrd.Pfund (5,4 Mrd.DM) kosten. Wie die zusätzlichen Kosten finanziert werden können, weiß bisher niemand. „Jedenfalls nicht vom Staat“, wie Frau Thatcher in der letzten Woche im Unterhaus erklärte.

Aufgrund der anfangs vergessenen, dann verspäteten, verhunzten und nun wieder veränderten Planung wird die Schnellzugtrasse erst im Jahre 2001 angeschlossen werden. Und das auch nur, damit der Geschäftsreisende des nächsten Milleniums auf dem Weg von Paris nach London weitere 35 Minuten spart. Die werden die Benutzer des Kanaltunnels dann vermutlich beim britischen Zoll in den Zielbahnhöfen von Waterloo und King's Cross verbringen. Denn ein Europa ohne Grenzen kommt für die Regierung Thatcher trotz Tunnel und europäischem Binnenmarkt überhaupt nicht in Frage. Zwar soll der Thatcherismus nach den Worten von Industrieminister Lord Young „nach Europa exportiert werden“ - Kriminelle, Drogen, Ratten und die ideologische Pest des Kontinents sollen aber weiterhin der Insel ferngehalten werden.

Irgendetwas, so scheint das insulare Unterbewußtsein den Konservativen zu diktieren, muß gegen die Befürchtung der 'Sunday Times‘ getan werden. Die Zeitung hatte nämlich schon 1882 gewarnt, daß nach dem Bau eines Tunnels unter dem Ärmelkanal „Nihilisten und Internationalisten“ ins schutzlose Vereinigte Königreich einfallen würden.

Rolf Paasch (London)