: 18 Minuten Reise in der 4.Klasse
■ Ein sowjetischer Kurzfilm stellte auf dem elften internationalen Festival des Cinema du Reel in Paris alles in den Schatten
Seit 1979 gibt es in Paris das internationale Festival des Cinema du Reel, auf dem jährlich die neuen Dokumentarfilm -Produktionen vorgeführt und prämiert werden (4.-12.März). Aus den 200 eingeschickten Filmen wählte die Jury 37 Filme für den internationalen Wettbewerb aus. Bemerkenswert ist, daß zwanzig Filme von Frauen gedreht wurden. Außerhalb dieser Reihe laufen die französischen Dokumentarfilme. Ein dritter Schwerpunkt: „Ausblick auf die UdSSR“ (27). Die Organisatorin des Festivals, Suzette Glenadel, fordert von den Filmen „Nachdenklichkeit und Originalität, um gutes Kino, das wir verteidigen, zu stärken. Zu unserer großen Freude“, fügt sie hinzu, „haben einige Filme sogar Humor.“
Der kürzeste sowjetische Beitrag zum internationalen Wettbewerb - mein Eindruck: ein Favorit - bekam auch den Kurzfilmpreis. Reise in der vierten Klasse (Kazenaja Doroga) von Victor Semenjuk dauert 18 Minuten: Ein kurzer Film über die endlose Reise irgendeines Zuges durch Rußlands Steppe. Drehort ist das Interieur der Zeitmaschine Zug, die Abteile, wo man sich unterhält, um durchzuhalten. Die Wagen sind überfüllt, die Kamera schiebt sich zwischen Schenkeln, Gepäckstücken und den Geschichten hindurch, die pausenlos erzählt werden. Berichte vom alltäglichen Unglück über Krankheit, harte Arbeit und miesen Lohn. Die Erfahrungen prägen die Gesichter, der Film porträtiert sie zurückhaltend. Wenig markante, bloß verarbeitete Züge; während der Blick sie streift (nie länger als zwei, drei Sekunden), beginnt man schon, sie zu vergessen. Ein Mann beugt sich vor, um jemandem zu antworten. Seine Haut glänzt im Dämmerlicht des Abteils. Dann sinkt er zurück in den Schatten unter die Pritsche.
Wenn Filme (auch Dokumentarfilme) ehrlich sein können, dann ist esKazenaja Doroga genau da, wo er das Spiel mit der künstlichen Individualität nicht spielt: Die Reisenden bleiben anonym, ohne Namen, es gibt nur Andeutungen von ihnen. Gerade die Enge und Begrenzung der Zugabteile hätte zu langen Einstellungen auf die Physiognomie führen können. Hier entstehen aber keine Pseudo-Persönlichkeiten aus Motivsuche.
Die Bilder verschwinden sogar manchmal unter dem Ton. Das Stimmengewirr wächst zum gewaltigen Brausen an, Frauen- und Männerstimmen vermischen sich, die Fäden vieler Erzählungen werden verknüpft und unübersehbar, während man alle gleichzeitig hört. Diese Unruhe triebt die Kamera dann über die Gänge, nie gleitend, sondern schrittweise im kantigen Gang durch den Rumpelzug. Das Quietschen, Schleifen und Schlagen der Räder auf den Schienen ist ohrenbetäubend. (In diesem Moment freuen sich alle im Kinosaal, daß sie hier sitzen und nicht dort.) Die Handlung wird zum reinen Geräusch.
Die Kamera schaut aus dem Fenster. Der Zug rast an einer nächtlichen Industrielandschaft vorbei. Ein Rotfilter legt die Fabriken, Schlote und Pipelines in gespenstisches Licht. Hinter Rauchschwaden leuchtet kurz der Mond auf. Es ist noch immer laut. Der infernalische Lärm wird über diesen Bildern zur Metapher für die hemmungslose Indsutrialisierung der Sowjetunion. Gedanken dieser Art bleiben dem Betrachter überlassen. Die Zuginsassen denken nicht daran, über Industrialisierung und ihre Folgen zu reden. Statt dessen liest eine Frau ihrer Nachbarin die Zukunft aus den Karten. „Du wirst eine lange Reise machen und dabei einen interessanten Menschen kennenlernen!“ Dazu sieht man das aufgeregte Gesicht eines Mannes, der ein Brötchen kaut. Der war wohl nicht gemeint. Das Abenteuer einer außergewöhnlichen Begegnung wird auch in der vierten Klassen geträumt.
Der Titel klingt sozialkritisch, ist aber nicht nur so gemeint. Es gibt keinen Vergleich mit den übrigen drei Klassen, wir sehen von ihnen nichts. Die sozialen Unterschiede sind vorausgesetzt, Victor Semenjuk interessiert sich dafür, wie die Bewohner der vierten Klasse sich damit arrangieren.
Ein Zuschauer fragt: Gibt es in der vierten Klasse nur Sitz - oder auch Liegeplätze? Lachen. Victor Semenjuk: „Ich beantworte die Frage nicht, weil sie in das Gebiet der Eisenbahnfachleute gehört.“ Stattdessen erzählt er von den Dreharbeiten: Wie die Leute das Abteilkollektiv gebrauchten, um sich gegenseitig ihr Leben zu berichten. „Die Worte selbst“, sagt er, „sind vielleicht nicht so wichtig. Was zählt, ist, daß man Zuhörer hat.“
Der Regisseur experimentiert diskret mit den Zeitgefühlen der Zuschauer. Er will etwas beweisen: Daß man kein Zweistundenepos braucht, um die Essentialen einer langen Reise zu zeigen. Eine alte Frau sieht hinaus. Es schneit. Eine weißgraue Landschaft von Reihenhäusern. Eines gleicht exakt dem anderen. Kein Schnitt unterbricht den tristen Ausblick. Etwa eine ganze Minute zwingt die Kamera unser Auge auf diese Häuser; die längste Minute des Films. Gefilmte Zeit und Realzeit nähern sich einander an und decken sich kurz. Für einen Augenblick am Ende dieser Minute fühlen wir uns genau wie die Reisenden selbst.
In der 18.Minute möchte man aussteigen. Plötzlich stehen wir in einem Schrankenwärterhäuschen. Vor dem Fenster rast der Zug vorbei, unser Zug. Er hat nicht angehalten. Die Schrankenwärterin setzt sich, Autos überqueren die Schiene. Auf dem Herd kocht das Wasser im Teekessel, der Dampft zischt pfeifend heraus - die Schlußszene. Der Film endet mit einer Frage: Warum bleibt die Schrankenwärterin gleichgültig sitzen, während der Teekessel anschlägt? Eine lächerliche Frage, aber sie erfüllt ihren Zweck: Die Wirklichkeit bleibt auch im Dokumentarfilm eine Spur rätselhaft. Schön, das von einem Teekessel zu hören.
Jan Nicolaisen
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