: Kanzler-Talfahrt
Kohls Spagat um den Machterhalt ■ K O M M E N T A R E
Es geht nicht mehr ums Kindergeld, es geht um die nackte Existenz der Regierung. Um des puren Machterhalts willen wird auch die sonst so brave CDU/CSU-Fraktion ganz unberechenbar. Bislang hat die Fraktion immer brav gekuscht
-diesmal könnte sich der kleine Aufstand in Bonn als erster Tritt in die Bauchhöhle des Kanzlers erweisen.
Ein Kanzlersturz wäre zur Zeit dennoch pure Kaffeesatzleserei. Denn Helmut Kohl hat bislang überaus geschickt mit Personalpolitik taktiert. Er wird auch diesmal versuchen, darüber das strategische Dilemma der Union zu retuschieren: also eine Kabinettsumbildung fürs eigene Überleben. Nur: Eine kleine Kabinettsreform könnte kaum reichen, und das große Stühlerücken könnte das Faß für ihn erst recht aufmachen.
Die Union hat nicht verhindert können, daß rechts von ihr eine rechtsextreme Partei Prozente sammeln kann. Die Krise der Union ist eine strategische und nicht die einer Person. Das Pech von Helmut Kohl ist nur: Er verkörpert im Moment für seine eigene Klientel die Unlösbarkeit dieses Dilemmas. In rasantem Tempo ziehen jetzt rechte Tabubrecher wie der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Wagner ihre Konsequenzen und reden einer Rechtsradikalisierung der Union das Wort.
Hat die CDU eine andere Person, die den Spagat zwischen der Modernisierung, der notwendigen Anpassung an die gesellschaftlichen Umbrüche der letzten zwanzig Jahre und den am rechten Rand erstarkten Fundamentalismus zumindest wieder eine Zeitlang schafft? Vielleicht am ehesten Lothar Späth - auf wirtschaftlichem Gebiet ein technokratischer Modernisierer mit ökologischem Touch und genügend rechtem Populismus in der Familien- und Ausländerpolitik.
Ob mit oder ohne Späth - die Union wird jetzt wohl mit aller Kraft darauf setzen, Rot-Grün zu dämonisieren. Unterstützt von der Wirtschaft, könnte dies vielleicht sogar gelingen, obwohl Hessen gezeigt hat, daß das rot-grüne Chaos kein solches Schreckgespenst mehr ist.
Ursel Sieber
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