: Murder Capital - Drogenkrieg in Washington D.C.
Richter in Washington setzt Ausgangssperre für Jugendliche vorerst außer Kraft / 1989 schon über hundert Morde / Blutigste Monate in der Geschichte der Stadt / Debatte über Maßnahmen gegen die Gewalt von Ratlosigkeit geprägt / Rücktritt des Bürgermeisters gefordert ■ Aus Washington Stefan Schaaf
Als der Stadtrat von Washington D.C. Anfang März eine nächtliche Ausgangssperre für Jugendliche unter 16 Jahren beschloß, stand er unter heftigem Druck, etwas zu tun. Die ersten beiden Monate des neuen Jahres waren die blutigsten in der Geschichte der Stadt gewesen: Fast hundert Menschen, die meisten jung, die meisten männlich, die meisten schwarz, waren dem in der Hauptstadt tobenden Drogenkrieg zum Opfer gefallen. Schon im vergangenen Jahr hatte die Zahl der Morde in der Stadt mit 372 Rekordhöhe erreicht. Auch damals hatten vier Fünftel der Täter und der Opfer schwarze Hautfarbe und starben in den Wirren des rapide angestiegenen Handels von Kokain und Crack. Jedes zweite Opfer hatte eine der beiden Drogen im Blut.
Forderungen nach Gegenmaßnahmen hat es viele gegeben, seit die Zahl der Morde im Zusammenhang mit dem Drogenhandel Anfang 1988 zu steigen begann. Doch konnte die heftige Debatte über die Gewaltwelle in den ausgepowerten Ghettos der Hauptstadt nicht darüber hinwegtäuschen, daß keiner weiß, wie man das Morden beenden könnte. „Wir führen keinen Krieg, sondern sammeln nur Leichen ein“, so ein verzweifelter Pfarrer zum Washingtoner Bürgermeister Barry.
Von öffentlichen Stellen kam meist nicht mehr als leere Worte. Effektive Maßnahmen blieben Gruppen wie der „Nation of Islam“ vorbehalten. Die Gefolgsleute des umstrittenen moslemischen Polit-Aktivisten Louis Farrakhan, die in der schwarzen Community wegen ihrer eisernen Disziplin und Entschlossenheit großen Respekt genießen, hatten die Dealer im Frühjahr erfolgreich aus einem Apartmentviertel Washingtons vertrieben.
Auch die Ausgangssperre war nicht als Wundermittel verstanden worden, gehört sie doch in anderen Großstädten wie Detroit, Los Angeles oder Newark bereits zum gewohnten Arsenal der Ordnungshüter. Falls Jugendliche unter 16 Jahren um elf Uhr abends beziehungsweise am Wochenende um Mitternacht zu Hause sein müßten, könne die Polizei vielleicht „ein gewisses Maß an Kontrolle“ über die Straßen zurückgewinnen, argumentiert Stadtrat Crawford, dessen 7.Wahlbezirk am schwersten unter den Drogenhändlern zu leiden hat. Doch die Gegner der Ausgangssperre, darunter Bürgermeister Barry, bezweifelten die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, da es alle für die Vergehen einiger bestrafe.
Am Montag, als Washington sein 119.Mordopfer seit Jahresbeginn verzeichnete, gab ihnen ein Richter recht: Auf eine Klage der Bürgerrechtsvereinigung ACLU hin setzte er den Vollzug der Maßnahme für zehn Tage aus. Der Kolumnist William Raspberry schrieb, es würde wesentlich mehr ungesetzliches Tun verhindern und die Straßen viel sicherer machen, wenn man eine Ausgangssperre für die Zwanzig- bis Dreißigjährigen verhängte: „Die Probleme in dieser Stadt, Kriminalität, Drogenhandel und Mord, sind keine Probleme, die durch Teenager verursacht werden.“ Doch die Teenager sind häufig die Opfer im Washingtoner Drogenkrieg. Oft standen sie nur zufällig im Weg, als Crack-Dealer ihre Territorien mit Maschinenpistolen abzustecken versuchten.
Auf einer ganztägigen Konferenz in der vergangenen Woche diskutierten SchülerInnen, wie das Klima von Gewalt, Mißtrauen und Verzweiflung geändert werden könnte. Da wurde gefordert, Schüler ins Leichenschauhaus mitzunehmen: „Ein Viertkläßler, der einen Toten gesehen hat, wird dies den Rest seines Lebens nicht vergessen.“ Mehr Zustimmung erhielt die Forderung nach strikter Kleiderordnung, versuchen jugendliche Drogendealer doch, mit Designer-Outfit, Goldschmuck und Basketballschuhen, die bis zu 180 Dollar kosten, Eindruck zu schinden und unter ihren MitschülerInnen NachahmerInnen zu finden. Einig waren die SchülerInnen nur darin, daß von ihren LehrerInnen, der Schulverwaltung, dem Fernsehen, von den Kirchen, der Polizei und den Behörden zu wenig geschehe. Sie bezweifelten, daß Sorgentelefone oder spezielle Schulausweise helfen würden.
Die Ratlosigkeit, warum gerade Washington zur „Murder Capital“, zur Hauptstadt der Morde in den Vereinigten Staaten werden konnte, reicht bis in die Spitzen der Regierung. Dort schwor der neu ernannte „Drogenzar“ William Bennett, Washington Priorität im vielbeschworenen Krieg gegen Drogen einzuräumen. Mittel der Bundesregierung, sei es zur Bezahlung zusätzlicher Polizeistreifen, sei es zur Einrichtung neuer Zellen in Bundesgefängnissen, sollen primär für den Einsatz in Washington zur Verfügung gestellt werden. Washingtons Polizeichef Maurice Turner forderte kürzlich sogar, medizinische Experten sollten einen Impfstoff entwickeln, der das von Drogen ausgelöste „High“ verhindern könne. Mehr Mittel fordert die Polizei schon seit langem, doch Bürgermeister Barry verweigerte bisher seinen knapp 4.000 Ordnungshütern höhere Budgetmittel, denn das Geld sei einfach nicht da. Die Beziehungen zwischen Polizei, in deren Reihen sich Erschöpfung breit macht, und City Hall nahmen weiteren Schaden, nachdem vor Wochen zwei Polizisten Barry beim Besuch eines Freundes in einem Hotel überraschten, in dessen Zimmer später Kokain gefunden wurde. Die Affäre hat Barrys Reputation auf den Tiefpunkt sinken lassen. Selbst langjährige Unterstützer fordern inzwischen seinen Rücktritt. Seine Wiederwahl im nächsten Jahr erscheint sehr fraglich.
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