: DAS SELBSTMÖRDER-SPIEL
■ Mit dem „Kompaß durch den Sumpf“ wagt sich die Tanzfabrik
Anderthalb Stunden zergehen vor den Augen, Kugeln stoßen einander an und halten sich im Ring eingeschlossen kontinuierlich in Bewegung. Beim Hexenspiel mit einem Faden werden aus einfachen Mustern komplizierte Gebilde variiert und ständig weitergegeben von einem Spieler an den nächsten. Im neuen Stück der Tanzfabrik, entstanden aus der Kollaboration von vier Tänzern und vier Tänzerinnen (einschließlich der Musiker und Sängerin), folgen die Sequenzen einer inneren assoziativen Logik. Es gibt keine Hauptpersonen und kein starres Zentrum der Bilder. Alles erneuert sich ständig von der Peripherie her. Selten erstarrt die Szene zum surrealen Figuren-Arrangement, bis neue Impulse sie erneut in Schwung versetzen. Die Personen geraten unter Strom, schleudern sich aus sich selbst heraus und bleiben doch leicht, euphorisch, mit einer trügerischen Sicherheit vielleicht. Im Nebeneinander gehen einzelne auch verloren, versacken anonym im Gewimmel. Die Musik von Klaus Staffa hält die Bilder klar, schüttet nichts zu und setzt vor ein diffuses und weit entferntes Rauschen einzelne Akzente. Sanfte, melancholische Ruhepausen, ein Loslassen der exaltierten und manchmal auch aggressiven Spannung gewähren die bluesigen Songs von Gayle Tufts.
Material für ihr Spiel entdeckten die acht in den Textbergen des Reinhard Gehret, der 1986 tot in seiner Berliner Wohnung aufgefunden wurde, elendig gestorben an seiner Zuckerkrankheit. Auf Tonkassetten und in Aktenordnern hinterließ er Tagebücher, Dichtungen, ständige Protokolle seines Zustandes und surrealistische Sprachfeste. Gehret schrieb, wie andere atmen, maß die Zeit an geschriebenen Seiten, die Wege durch die Stadt an gesprochenem Text. Er häufte die Worte zur Selbsterhaltung an und mauerte sich mit ihnen ein. Aus dieser Wand von Sprache, von anderen ungehört und ungelesen zu Lebzeiten des Autors, brachen die Tänzer einzelne Steine, kurze Textpassagen. Die Tragödie Gehrets, der 20 Jahre nach einem Selbstmordversuch starb, als hätte er beim zweiten Anschlag auf das eigene Leben die Zeit und seine Zuckerkrankheit als Waffe benutzt, taucht in merkwürdigen Spuren auf, in einer Folge von pantomimischen Gesten, ähnlich denen, mit denen Kinder ein Lied begleiten. Finger auf die Stirn - bums, hat er sich in den Kopf geschossen; Hand auf ein Auge - da wurde er fast blind; aufgerissener Mund und eingezogener Leib - er konnte nicht mehr essen; Hand am Puls - es ging ihm nie mehr gut. Sein gestörter Stoffwechsel wird zum Bild für das ständige Einsaugen und Ausscheiden von Wörtern, für die Besessenheit seiner Produktion. Die Formen dieser Pantomime verselbständigen sich in der Wiederholung und bringen einen eigenen Bewegungsrhythmus hervor, mit dem die Tänzer dann versuchen, sich in jene erhöhten Erlebniszustände und äußerst empfänglichen Bewußtseinslagen zu katapultieren, aus denen Gehret heraus schrieb. Träume, aus denen er nicht aufwachen wollte, Tänze, die zum Weitersehen verführen. Seine Dichtungen dienen als ein verborgener Text, ein geheimer Steinbruch, aus dem die Tänzer ihre Assoziationen borgen. Wäre nicht das ausführlich über Gehret berichtende Programmheft, dem Zuschauer könnte vom bloßen Sehen und Hören die Rekonstruktion dieses Zusammenhanges nicht gelingen.
Katrin Bettina Müller
„Kompaß durch den Sumpf“ von und mit Claudia Feest, Ka Rustler, Dieter Heitkamp, Howard Sonnenklar, Annette Klar, Klaus Staffa, Kurt Koegel, Gayle Tufts. Bis zum 27.3. & vom 29.3.-2.4. um 20.30 Uhr in der Theatermanufaktur.
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