: Versöhnung statt Folter
Seit 1985 erprobt Italien eine „weiche Linie“ in den Gefängnissen und im Umgang mit politischen Häftlingen / Haftverkürzungen, Hafturlaub, „Liebesstunden“ und Zusammenlegung nach Wunsch ■ Aus Rom Werner Raith
„Wenn der Kampf vorbei ist“, sagt Niccolo Amato, Oberaufseher über Italiens Gefängnisse, „muß man vor allem Möglichkeiten der Versöhnung suchen.“ Und: „In der Bibel wandelt sich ein Saulus zum Paulus; warum soll das heute nicht möglich sein?“
Der Satz paßt nicht nur auf die von Amato hier apostrophierten ehemaligen des bewaffneten Kampfes der siebziger Jahre, Rotbrigadisten und Leute der „Prima Linea“, sondern auch auf ihn selbst: Vom unversöhnlich lebenslänglich fordernden Chefankläger der großen Prozesse gegen Rotbrigadisten und Autonome ist er inzwischen zum Vorkämpfer für einen Strafvollzug geworden, der selbst dem hoffnungslosesten Häftling noch die Hoffnung auf ein anderes Leben eröffnet. Vorbei die Zeiten, wo brutales Niederknüppeln und scharfe Schüsse auf gerade gefangengenommene oder meuternde InsassInnen zum Alltag gehörten (mehr als 80 Knastaufstände zählt die Chronik zwischen 1970 und 1980; in Alessandria erschoß die Polizei 1974 sieben Häftlinge und Geiseln, in Trani hungerte sie 1980 eine wochenlange Revolte regelrecht aus) und „die Wärter wischten nicht mal das Blut vom Boden, wenn Inspektionen kamen“, wie sich der 1979 verhaftete „Autonomia operaia„-Führer Toni Negri erinnert.
Sicher: In einigen Haftanstalten, wie etwa in Voghera, gibt es Rund-um-die-Uhr-Teleüberwachung in etwa zwei Dutzend Zellen, angeblich zum Schutz selbstmord- oder mordgefährdeter InsassInnen, manche Knäste sind noch immer „unregierbar“ (wie das neapolitanische Poggioreale, wo sich Camorrabanden gefängnisintern mörderische Kämpfe liefern und sich kein Wärter hineintraut); doch alles in allem hat sich seit Amatos Dienstantritt 1985 sehr viel geändert. Aufgrund seiner Gutachten hat das Parlament beträchtliche Haftreduktionen für Langjährige, die faktische Aufhebung von lebenslänglich, den regelmäßigen Hafturlaub als Rechtsnorm (und nicht als Gnadenakt) eingeführt. Doch Amato will dabei nicht stehenbleiben. So hat er zahlreiche Freigängergruppen aus ehemaligen Brigadisten und sogenannten gewöhnlichen Kriminellen eingerichtet, die tagsüber Sozialarbeit leisten, Gemeinschaftsprojekte auf Bauernhöfen oder in Produktionskollektiven durchführen oder an externer Fortbildung teilnehmen. Ermutigt durch die Erfolge dabei, wagt er sich nun sogar an regelrecht revolutionäre Neuerungen heran - wie etwa die Einführung regelmäßiger „Liebesstunden“ der Häftlinge mit ihren Frauen und Freundinnen. Initiativen, die mittlerweile selbst denjenigen Respekt abnötigen, die er selbst lebenslang hinter Gitter gebracht hat - etwa den „harten Kern“ der Roten Brigaden. Sie werden in aller Regel nach Wunsch zusammengelegt und können sich frei austauschen; Amato nennt dabei allerdings auch seinen Hintergedanken: „Je mehr die miteinander diskutieren, um so eher verabschieden sie sich von der Idee des bewaffneten Kampfes.“
Wenn in Italien Angehörige von Häftlingen und Freunde draußen im Verein mit liberalen Politikern dennoch mitunter von Isolationsfolter sprechen oder das Weiterbestehen von Hochsicherheitstrakten denunzieren (und mitunter darob in Hungerstreik treten), dann hat dies wenig mit analogen Klagen in der Bundesrepublik zu tun. „Isolation“ bedeutet für Italiener vor allem, daß man ihnen den Zugang ihrer Verwandten und Freunde verwehrt.
Die schlimmste Folterperiode, berichten schon länger einsitzende Häftlinge, sei diejenige gewesen, in der man sie in den siebziger Jahren alle zwei, drei Wochen in ein anderes Gefängnis verschoben hatte - das Patentmittel des damaligen Gefängnisoberaufsehers Carlo Alberto dalla Chiesa gegen die ständigen Ausbrüche (allein zwischen 1968 und 1973 gab es mehr als 300 Ausbrüche mit fast tausend Entflohenen) beendete die Evasionen zwar auf einen Schlag, machte aber gleichzeitig den Kontakt zu den Verwandten und Freunden unmöglich, weil die nicht einmal wußten, wo ihre Männer, Frauen, FreundInnen gerade saßen.
So ängstigen sich derzeit viele InsassInnen, daß es plötzlich ein Rollback in diese Verschiebezeiten geben könnte. Im vergangenen Februar nämlich hat die Polizei Pläne für zwei gewaltige Ausbrüche aus dem römischen Gefängnis Rebibbia entdeckt. Oberaufseher Amato will dennoch nicht umschwenken: „Daß wir die Ausbrüche verhindert haben, ist doch ein Zeichen, daß wir unsere Wachfunktion trotz der Liberalisierung erfolgreich wahrnehmen.“
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