In Tunesien stehen die Islamisten vor der Tür

Am Sonntag erste freie Wahlen seit der Unabhängigkeit des Maghreb-Staates / Präsident Zine Ben Ali „Konsenskandidat“ aller Parteien / Skepsis über Demokratieverständnis der zunehmend an Boden gewinnenden „Bewegung der Islamischen Tendenz“ (MTI)  ■  Aus Tunis Knut Pedersen

In die politische Landschaft Tunesiens ist endlich Farbe gekommen. Acht Parteien streiten für ihre Couleur um die Gunst von mehr als zweieinhalb Millionen tunesischer Wähler: vom Rot der umgetauften bourguibistischen „Staatspartei“, die bislang alleine in der Volksvertretung saß, über Blau, Braun und Grün für Kommunisten, demokratische Sozialisten und nationalarabische Baathisten bis zum schmucken Lila, mit dem die „unabhängigen Listen“ für die noch nicht legalisierte islamische Partei ins Rennen gehen.

In 25 Wahlbezirken sind landesweit mindestens zwei Oppositionsparteien vertreten. Bei den Präsidentschaftswahlen geht Zine El Abidine Ben Ali dagegen allein ins Rennen, Er ist der „nationale Konsenskandidat“, der für „fortschreitende Demokratisierung“ steht, seitdem sein Staatsstreich vom 7. November 1986 das Land von der repressiven Agonie des späten Bourguiba-Regimes erlöste.

„Natürlich bin ich froh, daß alle Parteien meinem demokratischen Programm für Tunesien eine Art plebiszitärer Weihe geben wollen“, erklärt Präsident Ben Ali im Gespräch und fügt zugleich an: „Das heißt aber auch, daß wir mit der Demokratisierung vorangehen müssen - mit Umsicht und Verantwortungsbewußtsein.“

Obgleich vor allem Ahmed Mestiri, der Führer der „demokratisch-sozialistischen Bewegung“ (MDS), über „mangelnden Wechsel und erschreckende Kontinuität“ klagt, bleibt Ben Ali bis auf weiteres unantastbar. Zum einen, weil mit der Abschaffung des Staatssicherheitshofes, der Öffnung der tunesischen Gefängnisse und der Einführung parteipolitischen Pluralismus tatsächlich vieles zum Besseren gewendet wurde, zum anderen, weil Mestiri und die gesamte Opposition vom „konstitutionellen Staatsstreich“ Ben Alis vollends überrascht wurden.

Alle diejenigen, die jahrelang auf das - negative politische Erbe Bourguibas gesetzt hatten, stehen heute im Abseits. Der faule Apfel ist niemandem in den Schoß gefallen. Ob der MDS heute noch die wichtigste Oppositionspartei ist, gilt als die interessanteste Frage des anstehenden Wahlgangs. Denn die „Bewegung der Islamischen Tendenz“ (MTI), zu Zeiten Bourguibas das Hauptopfer seiner Repressionspolitik, hat auch im „demokratisierten“ Tunesien weiterhin an Boden gewonnen. In den Augen vieler landflüchtiger Tunesier, die von der „Moderne“ auch unter der Form von jährlich mehr als einer Million Touristen verschreckt werden, ist die Rückbesinnung auf die „islamische Identität“ die einzig wahrhafte, „ganzheitliche“ Alternative. Eine Alternative, die noch glaubhafter geworden ist, seitdem die Islamisten ihr demokratisches Credo proklamieren. „Wir sind keine Schiiten, wir warten nicht auf den alles erlösenden 'versteckten Imam‘, den 12. Nachfolger Alis, und haben anderes im Sinn als den Gottesstaat. Wir wollen einfach als politische Partei anerkannt werden.“

Der Generalsekretär des MTI, Abdoulfattah Mourou, weiß mit weltlichen Ängsten umzugehen. Als Option auf die Zukunft hat er auch bereits den Antrag auf Anerkennung als „Renaissance -Partei“ (Hezb el Nahda) gestellt. „Im Maghreb wird der politische Islam zur toleranten Erneuerungsströmung werden“, versucht er weitverbreitete Skepsis zu zerstreuen.

Ob die Renaissance-Partei mehr als nur ein taktisches Verhältnis zum demokratischen „Spiel“ haben wird, ist derzeit die umstrittenste Frage der tunesischen Innenpolitik. „Politik wird mit Worten gemacht, und wir müssen die Islamisten beim Wort nehmen“, meint Hedi Mechri, der Herausgeber von 'Realites‘, der wohl besten tunesischen Wochenzeitung. Staatspräsident Ben Ali scheint dem grundsätzlich zuzustimmen und dürfte die Islamistenpartei nach den Wahlen legalisieren, um - wie es einer seiner Berater formuliert - „den Integristen den Gebetsteppich unter den Füßen wegzuziehen“.

Die Islamisten könnten mit ihren „unabhängigen Listen“ rund ein Drittel der Wählerstimmen auf sich vereinigen. Wenn es dazu kommen sollte, dann steht der tunesische Demokratisierungsprozeß vor seiner bislang schwersten Belastungsprobe.