: DER GAUL GEHT DURCH
■ Das Jazz-Trio „Evidence“ in Berlin
Der älteste der drei heißt Philippe Soirat, ist 28 und läßt am Schlagzeug die Sau raus. Seine Mimik ist eigenwillig süßsauer: Er spielt fast ständig mit verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln und dabei weit aufgerissenen Augen, die das Publikum teilweise genauso hart bearbeiten wie die Schläge seine Batterie. Am Kontrabaß steht Frederic Briet. Er zupft eine geradezu virtuose Subversion, was ihn regelmäßig selbst in Trance versetzt. Manchmal singt er mit, was seine Finger ihm diktieren. Der Kleinste ist der Größte: Philippe Monange, 25, scheinbar völlig ruhig, sitzt am Klavier und läßt die Tasten tanzen, daß einem die Fußsohlen prickeln!
Wo bin ich eigentlich? Wenn mir jemand gesagt hätte, ich befände mich in einem Film von Genet, hätte ich nicht widersprochen... Die drei sitzen im Badenschen Hof. Sie nennen sich „Evidence“ und kommen aus Nizza, Lyon, Paris. Alle haben eine einigermaßen klassische Ausbildung als Instrumentalisten am Konservatorium hinter sich und tummeln sich seit drei Jahren mit diversen Besetzungen im weiten französischen Jazz-Untergrund. In Paris treten sie seit einem halben Jahr zusammen auf; dies ist ihre erste Tournee.
Ihr Programm bietet keinen ausgesprochen „neuen“ Jazz. Sie spielen erstklassige Musik im Stil etwa des Tete-Montoliu -Trios. Dabei bringen sie u.a. Themen von Duke Ellington, Oscar Peterson und Gershwins „Summertime“. Eigene Kompositionen sind kaum darunter. Doch ihre Improvisation ist einfallsreich, wobei sie sich manchmal zu minutenlangen Ausflügen in aberwitzige Variationen hinreißen lassen. Zum Beispiel Philippe Soirat, der hinter seiner Batterie sitzt wie auf einem wilden Gaul, der mit ihm durchgeht. Das Bassist steigt aus, das Klavier wird immer vorsichtiger, gleich fällt alles auseinander. Soirat tobt in vier verschiedenen Rhythmen gleichzeitig - bis plötzlich völlig gelassen das Anfangsthema grinst. Der Gaul ist im Stall.
Die Tastatur des Klaviers hat unter den Fingern von Philippe Monange nichts zu lachen. Aus jeder noch so verschrägt klingenden Tonfolge findet er einen Ausweg, und eine Geschwindigkeitsbegrenzung scheint es für ihn nicht zu geben. Wenn er uns seine Super-Soli um die Ohren wirbelt, macht er selber die Augen zu, damit ihm nicht schwindelig wird.
In wilden Sprüngen turnt dagegen Frederic Briet auf seiner Baßgeige herum, um den explosiven Klangstrukturen seiner Kollegen auszuweichen. Ganz nebenbei, mitten in einem chromatischen Spaziergang stimmt er seine Saiten nach. Während eines anderen Stückes hört er plötzlich auf zu spielen und zupft aus einem Haufen Blätter einen dieser für die Zunft der Jazzer so unvermeidlichen, unübersichtlichen Zettel heraus, mit dem er sich hervorragend zurechtfindet.
Etwas allerdings war schade an diesem Abend: „Evidence“ hätte noch etwas experimentierfreudiger auftreten können. Auf ein Programm mit eigenen Stücken wäre ich gespannt.
Christian Vandersee
„Evidence“ spielt vom 3.4. bis 6.4. im Flöz. Beginn: 21 Uhr.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen