„Eigene Töne in schrillen Zeiten“

■ Über tausend ZuhörerInnen bei Veranstaltung zum Paragraph 129a und dem Prozeß gegen Ingrid Strobl / „Wer über Rosa Luxemburg schreibt, dem traut man schon ein bißchen Terrorismus zu“ / Ein Kunterbunt aus politischer Analyse und historischem Rückblick

Die Veranstaltung ergab ein Potpourri der politischen Unterdrückung, ein Potpourri des Widerstands dagegen: „Eigene Töne in schrillen Zeiten“.

Freitag abend besetzten über tausend Menschen dicht gedrängt die Plätze im Audimax der TU. Sie bekamen einen akribischen Blick zurück im Zorn geboten, einen Blick zurück auf zwei Jahrzehnte der Kriminalisierung sozialer Bewegungen: Die historische Entwicklung des Paragraphen 129a vom „Antiterrorismus-Gesetz“ von 1976 zur inflationär angewandten juristischen Allzweckwaffe gegen jedwede politische Radikalität seit Mitte der achtziger Jahre; eine Chronologie der Verurteilungen nach Paragraph 129a seit Ende letzten Jahres: Knall auf Fall Haft- und Bewährungsstrafen in München, Hamburg, Frankfurt und Düsseldorf; das neueste Konstrukt der Bundesanwaltschaft: die Begriffshülse „anschlagsrelevante Themen“ für die Kritik an Gen- und Reproduktionstechnologie; die jüngste Verschärfung des §129a: Gegen sieben Menschen aus dem Ruhrgebiet und aus Hamburg wurde Beugehaft wegen Aussageverweigerung angeordnet; ein Resümee von neun Prozeßtagen gegen Ingrid Strobl; eine Lesung aus ihrem Buch Sie nannten uns Terroristen, das im Herbst veröffentlicht wird; ein Redebeitrag zum Hungerstreik der Gefangenen aus RAF und Widerstand und ein Querschnitt durch Berlins politische Szene. Es war ein Kunterbunt aus politischer Analyse, historischem Rückblick, Prozeßberichterstattung und News aus der Szene. Drei Stunden lang konzentriertes Zuhören, ohne Pause, ohne Zigaretten (Wobei das letztere wohl das schlimmste war? d. säzzer). Drei Stunden lang Staatsbürgerkunde. Vortrag reihte sich an Vortrag, nur unterbrochen durch Applaus, auch Szenenapplaus.

Auf dem Podium stand symbolträchtig ein Wecker, kein Emes Sonochrom, wie Ingrid Strobl ihn für einen Sprengstoffanschlag der Revolutionären Zellen (RZ) auf das Kölner Lufthansagebäude gekauft haben soll, sondern einer in schöner, leuchtendroter Farbe, ein älteres Modell wie auf Omas Nachttisch. Dahinter saß Katja Leyrer, Schriftstellerin und 'Konkret'-Autorin. Sie bezeichnete den Prozeß gegen Ingrid Strobl als „Schmierenkomödie der Bundesanwaltschaft, ein Stück nach 129a, Eintrittskarte: der Personalausweis“. Nach neun Prozeßtagen gegen die Ex-'Emma'-Redakteurin Ingrid Strobl seien alle „Beweise der Bundesanwaltschaft zusammengebrochen wie Kartenhäuser“.

Zum einen habe es keine Kontrolle in der Uhrenfirma Emes gegeben, daß die vom Bundeskriminalamt vorgeschlagene Ziffernblattprägung des Weckers identisch sei mit der Nummer auf dem Etikett der Verpackung. Zum anderen seien diese Etiketten nicht immer ordnungsgemäß auf den Kassenzettel, der nach Verkauf im Geschäft verblieb, aufgeklebt worden. So sei das Etikett mit der Ziffernblattnummer des von Ingrid Strobl gekauften Weckers ganz verschwunden. Der Vorsitzende Richter Arend beauftragte dann auch die Bundesanwaltschaft aufgrund dieser Summe von Ungereimtheiten mit Nachermittlungen.

Katja Leyrer griff tief in die Mottenkiste bundesanwaltschaftlicher Konstruktionen im Strobl-Prozeß: Wer sich unauffällig und normal verhielte, der sei ganz besonders verdächtig, sich eine perfide Art der Konspirativität zu eigen gemacht zu haben. Wer über Rosa Luxemburg schreibe, über den Internationalen Frauentag und die Nichtexistenz einer „Stunde Null“ 1945, dem traue man schon „ein bißchen Terrorismus“ zu. Eine weitere unerhörte Beweisvereinfachung stellten die sogenannten „Offenkundlichkeitserklärungen“ dar. Seitenweise würden alte Urteile in Sachen RZ verlesen. Die den Urteilen zugrundeliegenden Sachverhalte, die gar nichts mit dem Fall Strobl zu tun hätten, würden so als gerichtskundig festgehalten und seien dann prinzipiell nicht mehr beweisbedürftig, weil angeblich offenkundig. So entstehe ein „Zirkelschluß von einem Urteil zum nächsten“.

Katja Leyrer erklärte auch noch einmal, warum Ingrid Strobl, die sich zu Unrecht angeklagt fühlt, den Bekannten nicht beim Namen nennt, für den sie den Wecker besorgt hat. Sie zitiert sie selbst: „Zu sagen, für wen ich diesen Wecker gekauft habe, würde also nur bedeuten, noch einen Menschen dieser ziemlich brutalen Maschinerie auszuliefern, der ich unterworfen bin, und weitere Menschen, die Bekannten, FreundInnen und KollegInnen dieser Person, dem Räderwerk von Ermittlung und Erfassung, Schnüffelei und Verdächtigung auszusetzen.“

kati