: Kapitalismus als bürgernahe Anlage
■ Oberflächlicher Blick auf ein politisches Umfeld
Gabriele Goettle
Im Titel der Veranstaltung „Rot-Grün: Seifenblase oder Atem der Geschichte?“ kündigt sich bereits der gravitätische Eiertanz zwischen Spielwiese und Ernst des Lebens an. Geladen zu dieser Podiumsdiskussion hat die Neue Republikanische Gesellschaft - ein Reanimationsversuch am alten Republikanischen Club. Als Diskussionsteilnehmer sind angekündigt: Die Vorsitzende der AL; ein der SPD nahestehender Anwalt und Bundestagsabgeordneter der Grünen; ein ehemaliges weibliches Mitglied der GAL; ein von Bernward Vesper selig als „Hilfsbulle und Kretin“ beschimpfter SPD -Intellektueller; ein jüngerer SPD-Genosse und der ökolibertäre „Vordenker“ der Grünen.
Vorerst aber ist um 18.30 Uhr der kleine Konzertsaal noch leer. Auf der Bühne installiert der weißhaarige Hausmeister mit fachmännischer Würde das Mikrophon am Rednerpult und macht Sprechproben. Die Durchsagen verhallen hinter den kreisförmigen Zierelementen an der Decke. Das Ambiente des Saales ist von jener schlichten Feierlichkeit, wie sie die Gründergeneration der 50er Jahre bevorzugte. Von den goldfarbenen Deckenlampen fällt durch zahlreiche kleine Löcher in den Schirmen ein rieselndes Licht in den Raum. Die Klappsitze, solide aus dunklem Holz gefertigt, sind samtüberzogen und prall gepolstert. Hier nahmen einst Bürger Platz, die sich nach überstandenem Terror der Bombennächte und eiserner Aufbauleistung ein Recht auf Kulturgenuß erworben hatten.
Um 18.45 Uhr verteilen sich die ersten Zuhörer zwischen den Sitzreihen. Auf der Bühne macht sich die unverzichtbare weibliche Hand zu schaffen. Ordentlich abgezirkelt und jedem Sitzplatz unverkennbar zugeordnet, werden Mineralwasserfläschchen und Gläser auf den Podiumstisch gestellt. Eine weitere Frau eilt herbei mit einer bauchigen Vase aus hellem Opalglas, plaziert sie auf dem linken Drittel des Konzertflügels, der abgedeckt an der Seite steht, und wickelt einen üppigen Strauß Frühlingsblumen aus dem Papier. Osterglocke für Osterglocke wird betulich nebeneinander gesteckt. Die Zeit scheint still zu stehen, bis plötzlich jemand auflacht aus rein persönlichen Gründen. Die Blumenfreundin dreht sich erschrocken um, lächelt verlegen und erkennt, daß nicht sie gemeint war.
Das akademische Viertel ist angebrochen und die ca. 400 Sitzplätze sind weitgehend besetzt. Gedämpftes Stimmengewirr erfüllt den Saal, in der Luft schweben die gängigen Düfte der gediegenen Kosmetikhäuser, und ein Kamerateam richtet seine Scheinwerfer auf die Bühne. Das Publikum ist merkwürdig homogen in bezug auf Alter, Kleidung und Klassenlage. Ein Blick über die Köpfe hinweg zeigt unwiderruflichen Haarausfall bis hin zur gepflegten Halbglatze bei den Männern und diskrete Einfärbungen oder silbriges Schimmern der Haare bei den Frauen. Mehrheitlich haben sich Enddreißiger bis Mittfünfziger versammelt. Abweichend durch Alter und Aussehen lassen sich ca. drei Jugendliche unter zwanzig, zwei orientalische Ausländer, ein paar versprengte in Jeans und Turnschuhen, die das Haar noch von früher her lang tragen, und das alte Ehepaar Flechtheim ausmachen.
Das Publikum jedenfalls befindet sich weit entfernt von jenem Milieu, in dem das alltägliche Leben verpfuscht zu sein pflegt und Aufmerksamkeit und Ausbruch nur noch durch den Amoklauf zu rechtsextremistischen Parteien erreichbar scheinen. Sozial abgefedert, verbeamtet oder selbständig, organisiert in der GEW und anderswo, haben sie ihren geschützten Platz in der Zweidrittelgesellschaft erobert. Lebensversichert, altersversorgt und gesund ernährt, bewohnen sie geschmackvoll ausgestattete Räume, haben mehrmals im Jahr Gelegenheit zum Urlaub und fahren ein Auto mit Katalysator. Auf ganz natürliche Art fügen sie sich ins Ambiente des Saales ein. Wie die Elterngeneration haben sie den Aufbau der eigenen Karriere doch noch geschafft, und wie jene verdrängen sie die Vergangenheit. In Ermangelung der Sorge ums eigene Wohl ist das Mienenspiel friedfertig und freundlich. Leidenschaftslos und seltsam reduziert wirken Gestik und Körperbewegung. Sie können auf nichts mehr böse sein, nur noch „Betroffenheit“ artikulieren. Von einem rot -grünen Regierungsbündnis erwarten sie sich jenen reformerischen Elan, der ihnen im eigenen Berufsalltag verlorengegangen ist.
Wie im Theater ertönt ein erstes Läuten aus der Vorhalle. Die Diskussionsteilnehmer stehen plaudernd auf der Bühne, und Peter Glotz, gerade angekommen, lehnt im Seitengang an der Wand und diskutiert bereits mit einem Herrn. Der Nadelstreifenanzug sitzt perfekt, nur die Hosen sind ein wenig zu lang, was aber durch die Benutzung eines Dienstwagens nicht so bald zum Verschleiß der Stoßkanten führen wird. Über dem Arm trägt er einen eleganten hellen Mantel aus unregelmäßig gewebtem Material, dem irgendwo in der Nähe des Stehkragens die Naht aufgeplatzt ist.
Als am Podium endlich alle Platz genommem haben, eröffnet Uwe Wesel in seiner Funktion als Gastgeber die Veranstaltung. Es wird vermerkt, daß Otto Schily, der fehlt, bekannterweise grundsätzlich bis zu einer Stunde später zu erwarten sei. Thomas Schmid tritt ans Rednerpult und verliest seine Kritik am rot-grünen Regierungsprogramm. Sinngemäß sagt er, die beiden Parteien seien zum Regieren nicht gerüstet und hätten sich in allen wichtigen Bereichen wie Arbeit, Wirtschaft, Stadtentwicklung, Kultur, Ausländer und Flüchtlingsfragen dem alten politischen Instrumentarium verpflichtet, der Privilegierung technischer Maßnahmen, dem Amts- und Verwaltungshandeln. Es lasse sich keine neue politische Methode erkennen, es bleibe bei der Summierung von Einzelmaßnahmen. Statt Phantasie und unkonventionellem politischem Glanz habe ein Kuhhandel nach traditionellem Muster stattgefunden. Dennoch sei die unerwartete Chance zu nutzen. Er rief die „linke, alternative, kritische, anthroposophische, staatsabgeneigte und auf Neuerungen begierige Berliner Öffentlichkeit“ dazu auf, das Regierungsproblem zu ihrem Problem zu machen.
Das Publikum ist nicht begeistert über den zurückdelegierten Tatendrang, denn gerade war es noch erleichtert darüber, die Probleme in sachkundige Hände gegeben zu haben. Heidi Bischoff-Pflanz, vom Aderlaß noch sichtbar ermattet, bekennt in ihrem Redebeitrag: „Ich konnte das Programm noch nicht so analysieren wie der Referent“, man habe sich durchgeboxt durch die technischen Probleme beim Verhandeln mit der SPD und versucht, Basis und Verhandlungspartner gleichermaßen zufriedenzustellen.
Otto Schily erscheint, begrüßt überschwenglich die Kollegen am Podium, zieht das Jackett aus, setzt sich beherzt und behält fortan sein Anthropologenlächeln bei. In Peter Glotz, der in starre Lethargie versunken war, kommt Leben. Die Ausführungen von Thea Bock über die Probleme mit der GAL erregten ihn ebensowenig wie die seines Parteigenossen Gerd Wartenberg bezüglich wo Thomas Schmid Recht hat und wo nicht. Glotz braucht so einen wie Schily, um zu sich zu kommen. Der hat jetzt das Wort ergriffen. Humorig provokativ plaudert er dahin von der höheren Bonner Warte aus. Erteilt Warnungen, Ratschläge und Vorschläge von solcher Brisanz wie der, doch wieder „autofreie Sonntage“ einzuführen in Berlin. Glotz lehnt weit vorgebeugt über dem Tisch, fixiert über drei Frauen hinweg den Redner, und ab und zu öffnet er den Mund, wölbt die Zunge heraus, wie um sich auf diese Weise schnelle Abkühlung im Kopf zu verschaffen. Jeder kleine Scherz Schilys wird vom Publikum mit Applaus und Gekicher belohnt, besonders die Versicherung seiner Solidarität mit der Koalition, obgleich ihm am Programm das „Juckpulver“ fehle.
Glotz hingegen juckt es am ganzen Leib, er möchte sich nicht verkumpeln lassen. Berlin als Modell für die BRD zu bezeichnen, das sei ihm zu „großkotzig“, Modellcharakter könne die neue Koalition allenfalls für Berlin haben, aber die müsse sich erst einmal beweisen. Die Kluft zwischen AL und SPD habe sich trotz Koalitionstaumel kaum verringert, nicht nur wegen nach wie vor ungeklärter AL-Positionen zu Innenpolitik und Gewaltmonopol des Staates, sondern auch in bezug auf die Wirtschaftspolitik. Schily wirft ein, daß die SPD ja auch nicht offenlege, welches Programm für die Regierung und welches für die Opposition gedacht sei. Nach heftigem Applaus schleppt sich die Diskussion im Geplänkel, hauptsächlich zwischen den beiden Hähnen im Korb, weiter.
Wie auf jeder Veranstaltung ist auch hier einer, der aufsteht und wutentbrannt brüllt. In diesem Fall zu Glotz hin, die Sozis seien alle Verräter. Es wird nicht klar, was der Mann speziell meint, aber bei Glotz, der weiß, daß die Partei spätestens seit Noske immer denselben Dreck am Stecken mit sich führt, bildet sich leichter Schaum vor dem Mund. Doch nun erhebt sich der 80jährige Ossip K.Flechtheim von seinem Sitz und stellt fest, daß eines der wichtigsten Probleme nicht zur Sprache gekommen ist, „nämlich das Verhältnis zur sogenannten Wirtschaft oder umgekehrt, der Einfluß der sogenannten Wirtschaft, das heißt also der Unternehmer, Kapitalbesitzer usw., auf die Politik...“
Die Frage Flechtheims, obgleich zartfühlend formuliert, klingt fast anstößig und maliziös aus der Luft gegriffen. Sie wird mit zaghaftem Klatschen bedacht, das eher der Person als der Frage zu gelten scheint. Glotz reagiert mit einem Wortschwall. Unter Umgehung einer Antwort beschwört er die Notwendigkeit, den Fortschritt nicht zu verschlafen, sonst drohe die Bundesrepublik zum Kolonialgebiet zu werden. Dem Sinne nach führt er aus, daß Antikapitalismus sich erledigt habe, Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Politik, Gewerkschaften und bestimmten (nicht näher erläuterten) Teilen des Unternehmertums sei angesagt. Große Zukunftsaufgaben lägen in der ökologischen Modernisierung der Industriegesellschaft. Ärgerliche Zwischenrufe aus dem Publikum, doch endlich aufzuhören, beziehen sich nicht auf den Inhalt des Gesagten, sondern aufs Thema an sich.
Schily macht das populärer. Als Beispiel für ein Berliner Modell schlägt er den Bau einer getrennten Brauchwasser- und Trinkwasserleitung vor, durch den sich nicht nur viele Arbeitsplätze erschließen ließen, sondern auch die Sympathie der Wirtschaft. Man müsse sich an der Machbarkeit orientieren, ein solches Projekt sei machbar und richtungsweisend zugleich. Anhaltender Applaus. Ob er nun für ein klares Wort gespendet wird oder um der Veranstaltung ein Ende zu machen, ist unklar. Die ersten Zuhörer jedenfalls erheben sich von den Plätzen und streben dem Ausgang zu. Das war's.
In Abwandlung des 68er Spruches „Trau keinem über 30“ muß es heute wohl heißen „Trau keinem unter 80“. Und offensichtlich kann nur noch ein Achtzigjähriger sich trauen, öffentlich solche Fragen zu stellen. Zähe und unorthodoxe Denker wie Alfred Sohn-Rethel und der von Glotz so mißtrauisch beäugte Günther Anders scheinen die letzten zu sein, die es skandalös finden, „ideologischen Ballast“ abzuwerfen, damit der Ballon eindrucksvoll steigt. Ein anderer Greis, Herbert Marcuse, sagte kurz vor seinem Tod in einem Interview u.a.: „Die Aufhebung des produktiven Destruktionsprinzips widerspricht dem Organisationsprinzip des Kapitalismus.“
SPD und Grüne, unter der Kuratel des Sachzwanges versammelt, träumen von einer ökologisch runderneuerten Industriegesellschaft. Das ist der alte sozialdemokratische Traum, wenn schon sonst nichts geht, den Kapitalismus wenigstens demokratisch zu kontrollieren, ihn sozial zu verpflichten und gesundheitlich verträglich zu machen. Ihn ethisch zu humanisieren zum Paradies der Sozialpartner. Dieser vorauseilende Gehorsam notorisch friedlicher Versöhnler erhofft sich als Gegengabe für die politische Schmiegsamkeit von den Unternehmen ein gewisses Quantum an Trostpflastern, mit denen die ärgsten sozialen Wunden überklebt werden können.
Die eitle Tugendhaftigkeit fahriger Sonntagsreden kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich „sozial orientierte Wirtschaftspolitik“ und rein quantitative Wachstumsgier nicht zusammenbringen lassen. Und selbst da, wo das zukünftige Geschäft mit ökologischer Sanierungstechnik winkt, im wirtschaftlich fusionierten Europa, finden Fortschritt und Modernisierung auf Kosten anderer statt. Zwei Drittel der Weltbevölkerung bleiben elenden und ungesunden Existenzbedingungen überlassen, ausgeschlossen von den Segnungen des sich zur dritten Supermacht mausernden europäischen Binnenmarktes. Wie es EG-Bürgern ergehen wird, die arm sind, zeigt das amerikanische und englische Beispiel. Marktwirtschaftlich obsolet gewordene und noch werdende Massen, Arbeitslose, unausgebildete Jugendliche, Kranke und Alte fallen in Ländern mit harter Währung und schwungvoller Akkumulation hinten raus. Lebensqualität muß man sich leisten können. Auf alle andern wird man früher oder später den Hut draufhaun.
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