: Die Mankos des Knaben in der Kunst
■ Jungen und Mädchen im Kunstunterricht: Er malt in tiefer Verehrung Maschinen und Roboter, Kampf und Zerstörung, sie malt Mensch und Tier in liebevollen Situationen / Die Jungen setzen ihre Interessen im Kunstunterricht durch, die Neigungen der Mädchen bleiben auf der Strecke
Hannegret Biesenbaum
Der Mann hat die Ideen, die Frau führt sie aus. Er ist der Schöpfer, Gestalter, Künstler, sie ist seine Muse, so lautet die herrschende Meinung. Aber ausgerechnet die bildende Kunst bringt es an den Tag: Schon als Kind hat der Mann Mankos. Die sinnliche Wahrnehmung des Jungen ist weniger sensibel und bewußt als die der Mädchen. Farben und Formen verwendet er mit geringerer Sorgfalt. Die Anzahl seiner Bildthemen ist begrenzt - jedenfalls im Vergleich zu der seiner Altersgenossinnen.
Am liebsten wählt er die Darstellung von Kampf und Gewalttätigkeit. Dabei kann er sich Konfliktlösungen nur in der Zerstörung einer der Gegner vorstellen. Ein Ergebnis, das nicht unbedingt auf der Habenseite verbucht werden muß. Seine ganze Fürsorge gilt den technischen Geräten; nichts zeichnet und dekoriert er mit so viel Behutsamkeit und Hingabe wie sein Auto. Überhaupt Maschinen! Nicht, daß der Junge ihnen mit ganzem Herzen zugetan ist, stellt ein Novum an Erkenntnis dar - bereits Generationen von Eltern haben die technischen Vorlieben ihres Sohnes mit einem Gefühl von Stolz quittiert, gemischt mit Rührung beim Vater, mit Nachsicht bei der Mutter. Aber ist ihnen allen schon einmal in den Sinn gekommen, was sich tatsächlich hinter der Ehrfurcht ihres Sohnes vor der Technik verbergen könnte? Seine beinahe religiöse Verehrung läßt sich nämlich durchaus als Reminiszenz an kulturelle Praktiken von „Primitiven“ interpretieren. Sie zeigt, daß der Junge noch immer Vorstellungen von der „Macht“ toter Gegenstände anhängt, die eigentlich als überholt gelten. „Maschinen und Autos nehmen die Eigenschaften eines Fetischs an, der in primitiven Kulturen als Gegenstand wegen seiner magischen Kraft mit Ehrfurcht betrachtet wird“, schreibt Meike Aissen -Crewett, Kunsterzieherin und Wissenschaftlerin aus Frankfurt, die sich in einer eingehenden Untersuchung mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden von Jungen und Mädchen beschäftigt hat.1 Im Bann der Technowunderwelt
Gegenstand ihrer Analyse waren über 1.800 Zeichnungen von 26 Kindern (zwölf Mädchen und 14 Jungen) im Alter von sechs bis acht Jahren. Genaugenommen ist die Hingabe, mit der sich Jungen in ihren Darstellungen der Technik widmen, Ausdruck von Animismus (dem Glauben an die Existenz und Macht von Geistern), also nicht etwa von Fortschritt, wie man vordergründig glauben könnte, sondern von Mangel an Fortschritt. Der Junge verfügt nicht über die Technik, sondern er läuft Gefahr, zu ihrem Instrument zu werden. Vielleicht ist in der mitleidig herablassenden Redewendung vom „Kind im Manne“ vorausgeahnt, was nun wissenschaftlich erwiesen ist: daß der heranwachsende Mann leicht in den „Bann“ der technischen Wunderwelt gerät, genauer: daß er ihr (allzu) oft unterliegt.
Zu welchen Ergebnissen kommt die Untersuchung nun in der Analyse der Mädchenzeichnungen? Die Hochachtung vor der Technik geht den Mädchen offensichtlich ab. „Mit einem Anteil von gerade 5,4 Prozent an den Maschinendarstellungen scheinen Mädchen an solchen Verkörperungen von Kraft und Macht kein Interesse zu haben“, vergleicht Aissen-Crewett den Inhalt von Mädchenzeichnungen mit dem von Jungen. Das Mädchen wendet sich vielmehr dem Menschen zu, seiner unmittelbaren Umgebung, seinen Festen und Feiern, auch den Pflanzen und kleinen Tieren. Dabei ist die Darstellung meist harmonisch: Menschen sind fast ausschließlich in liebevollen Situationen zu sehen; Menschen und Umwelt befinden sich in Eintracht miteinander. Während Jungen zum Beispiel das Meer in den Zusammenhang mit Kämpfen und Gefahren bringen, zeigen Mädchen das Meer „im Kontext von Spielen, Spaßhaben als ruhige, freudenspendende See“. Mädchen beobachten intensiver und setzen ihre sinnlichen Wahrnehmungen in eine genaue ästhetische Gestaltung um. Eine Konsequenz ist die sorgfältige Verwendung von Formen, Farben und Linien.
„Mädchen“, zieht Aissen-Crewett das Resümmee, „sind in sozialer Hinsicht bewußter, kümmern sich mehr um Menschen und Tiere und um deren Zusammenleben in der Umwelt, zeigen eine größere ästhetische Sensibilität und Bewußtsein, wobei ästhetisch hier im ursprünglichen Sinn als sinnlich wahrnehmend verstanden wird.“
Das Mädchen als der Mensch der Zukunft, in der endlich auf Gewalttätigkeit und Unterdrückung verzichtet wird? Jedoch, der Fortschritt ist eine Schnecke. Und die muß erstmal die eingefahrenen Denk- und Vehaltensmuster in der Schule überwinden. Da ist zunächst einmal das dominante Verhalten von Jungen. „Männliche Jugendliche bestimmen den Tagesablauf, die Arbeitsweisen, die Art der Spiele, sie beanspruchen uns LehrerInnen unmittelbarer, setzen ihre Anliegen rücksichtsloser durch, stören oft sensible Kommunikationssituationen, sind lauter als die Mädchen“, beschreibt Eve Schnabel, Mitarbeiterin der Freien Schule Hamburg, ihre Erfahrungen mit Jungen und Mädchen im Unterricht.2 Mädchen nehmen sich zurück
Ähnliches weiß Irmgard von Lüde-Heller, Gymnasiallehrerin in Dortmund, über den Kunstunterricht in der Oberschule zu berichten: Jungen sind motorisch aktiver als die Mädchen; die LehrerInnen können kaum umhin, ihre besondere Aufmerksamkeit diesen „überaktiven Jungen“ zu widmen. Dadurch wird das Verhalten der Jungen verstärkt - ein Teufelskreis, der sich auf die künstlerische Praxis und die Aufgabenstellung im Kunstunterricht auswirkt. Im Klartext: Die Interessen der Jungen werden deutlicher in den Kunstunterricht eingebunden als die der Mädchen. Lüde -Heller: „Ich habe im Sekundar-I-Bereich (bis Klasse 10) häufig festgestellt, daß dieses handwerkliche Interesse, auch dieses vermeintlich kreativere Interesse im Umgang mit Material und Technik, daß ich das persönlich bei den Jungen in dem Wunsch nach Themen (Bastel- oder Konstruktionsthemen) gefördert habe, indem ich meine Unterrichtsinhalte darauf abgestellt habe.“
Da Jungen im Kunstunterricht ihren „ureigenen“ Interessen nachgehen können, einen Roboter basteln etwa oder eine phantastische Gestalt aus der Comicwelt bauen, werden natürlich ihre Motivationen und ihr Selbstwertgefühl verstärkt, die Fähigkeiten und Phantasien der Jungen im künstlerischen Bereich gefördert und entfaltet. Die künstlerischen Neigungen der Mädchen laufen dagegen Gefahr, auf der Strecke zu bleiben. Anders gesagt: Sie müssen ihre Begabung mehr aus eigener Kraft weiterentwickeln, sie sind angewiesen auf eine besonders starke innere Motivation. Kein Wunder also, daß dieses geschlechtsspezifische Verhalten schließlich zu der „Rücknahme von eigenen künstlerischen Aktivitäten“ bei Mädchen führen kann, wie Lüde-Heller erfahren hat: „Wenn Jungen und Mädchen gleichstark vertreten sind in einem Kunstkurs und es freundschaftliche Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen in dem Kurs gibt - von gleich leistungsstarken Jungen und Mädchen -, dann kann es passieren, ich hab‘ da konkrete Erfahrungen gemacht, daß das Mädchen sich in seiner Kompetenz deutlicher zurücknimmt und dem Jungen den Vortritt läßt. Das kann so weit gehen, daß es dann auch nicht mehr diesen künstlerischen Beruf wählt, sondern einen anderen ansteuert, und der Junge studiert dann das Fach.“
Die Gründe dafür liegen vermutlich in den „Geschlechtsvorbildern“, die zum Beispiel Vater und Mutter geben. Lüde-Heller: „Das ist sicher 'ne konkrete Erfahrung, die Mädchen machen können, und das äußern sie auch, wenn sie sagen: Wenn meine Eltern sich streiten, merke ich ganz deutlich, da resigniert meine Mutter, und mein Vater macht das letzten Endes so, wie es sein soll. Selbstverständlich spielt hier auch ein mangelndes Selbstwertgefühl eine Rolle. Bestimmen können, Entscheidungen treffen, das heißt natürlich, Risiken in Kauf nehmen. Und genau hier liegt einer der Angelpunkte für die Entwicklung von Selbstwertgefühl: Im Unterricht, auch im Kunstunterricht, werden vor allem die Experimentierlust und Risikofreude des Jungen gefördert. Probleme mit der Koedukation
Die Koedukation ist deshalb eigentlich nur formal, aber nicht inhaltlich realisiert. Mädchen und Jungen sitzen in einem gemeinsamen Raum, aber die Jungen setzen ihre Interessen mit psychischer und wenn es sein muß auch mit physischer Gewalt durch. Die Dortmunder Wissenschaftlerin Sigrid Metz-Göckel fordert deshalb „eine konsequente Ausrichtung des Unterrichts - inhaltlich, emotional et cetera - in gleicher Weise an den Mädchen wie an den Jungen„3. Mädchen wollen schließlich nicht nur „Mängel“ ausgleichen oder beseitigen. Sie sollen eine Identität entwickeln dürfen, das heißt über das Eingeständnis von Schwächen hinaus zu dem Entdecken von Stärken kommen.
Dem Problem der Koedukation und der ästhetischen Sozialisation von Mädchen und Jungen widmet sich auch das „Frauenforum“ im Bund Deutscher Kunsterzieher (!), das sich vor rund einem Jahr konstituierte. Es versteht sich „als fachspezifisches Forum für Frauen mit dem Ziel, defizitäre Bereiche der Kunstpädagogik zu bearbeiten“.
Gibt es ein solches Forum auch von Männern des Bundes Deutscher Kunsterzieher (BDK)? Noch nicht. Irmgard von Lüde -Heller, selbst Mitglied des Frauenforums im BDK: „Ich denke, vom männlichen Standpunkt her wird doch eher gesehen, 'na, wir müssen die Mädchen auch dahin bringen, daß sie genauso mit der Bohrmaschine umgehen können wie die Jungen‘.“ Der Junge also als das Allgemeine, Erstrebenswerte, Vollständige - das Mädchen als das Unvollkommene, das noch viel zu lernen hat, ehe es ernst genommen wird?
Welches kollektive weibliche Sündenbekenntnis legte doch jüngst die Theologin Dorothee Sölle ab? „Unsere Sünde“, sagte sie, „ist gerade die Selbstverleugnung, die Angepaßtheit, der mangelnde Stolz.„4 Und die „Sünde“ der Männer? Sie liegt in der „Selbstüberschätzung“!
1 'BDK-Mitteilungen‘ Heft 1/1989
2 'Frauen und Schule‘ Februar 1989
3 'Friedrich‘ Jahresheft VII 1989
4 Ebenda
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