: Gorbatschow in der Guild-Hall
Der Kreml-Chef verkündet in London einen Herstellungsstopp von waffenfähigem Uranium ■ Aus London Rolf Paasch
Der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow hat die hohen Erwartungen an seine Rede zum Abschluß seines dreitägigen Staatsbesuches gestern morgen enttäuscht. Statt, wie von sowjetischen Quellen angedeutet, die Grundrisse des von ihm geprägten Begriffs vom „gemeinsamen Haus Europa“ zu skizzieren, verlor er sich bei seiner 40minütigen Ansprache in der Londoner Guildhall in Allgemeinplätzen internationaler Politik und einer ausführlichen Beschreibung der Probleme bei der Umstrukturierung der Sowjetgesellschaft. Neu war lediglich seine Ankündigung, daß die UdSSR demnächst- als weiteren Abrüstungsschritt - die Produktion waffenfähigen Urans einstellen werde.
Der weibliche Teil des britischen Establishments war wieder einmal in jenen unnachahmlichen Hüten erschienen, und draußen vor der Guildhall hatte die britische Blaskapelle ihre musikalische Vergewaltigung russischer Folklore gerade eingestellt, als die Prozession mit dem Bürgermeister der City of London sowie Michail Gorbatschow und Margaret Thatcher an der Spitze feierlich Einzug hielt. Gorbatschow in der Halle der Londoner Gilde: Zunächst schien es, als würde sich der Anführer der sowjetischen Revolution - in diesen Tagen Perestroika genannt - hier in der Wiege des Kapitalismus allzusehr vom Geist des freien Wettbewerbs anstecken lassen. Minutenlang dozierte er vor dem erwartungsvollen Publikum über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten seines „Empire“ und die „radikale ökonomische Reform, die staatliche Regulierung und Markt verschmilzt, die verschiedene Formen sozialistischen Eigentums und ökonomischer Aktivitäten harmonisiert und reichlich Raum für Initiative und Unternehmensgeist der Produzenten einräumt“.
Frau Thatcher, als Fachmännin des revolutionären Laissez -faire, nickte ihm da ermunternd zu. Doch dann holte Gorbatschow weiter aus. Fortsetzung auf Seite 2
Perestroika sei nur die Bedingung eines globalen Umdenkungsprozesses, der das „Ende der Machtpolitik“ bringen müsse. Ohne Abrüstung und die Umleitung der freiwerdenden Ressourcen könnten die internationalen Umweltprobleme nicht bewältigt werden. Im Zuge der Abrüstung werde die UdSSR in Zukunft ihren Verteidigungshaushalt veröffentlichen.
Gorbatschows Betonung der engen Zusammenarbeit mit Großbritannien in bezug auf die konventionellen Abrüstungsverhandlungen in
Wien war wohl als Kritik der in seiner Rede nirgendwo erwähnten Bush-Administration zu werten. Die lange und verzweifelte Suche von Präsident Bush nach einem nicht -alkoholisierten und nicht hypersexuellen Verteidigungsminister in den USA, so befürchtet die sowjetische Seite offenbar, könnte die Dynamik der gegenwärtigen Entspannungsprozesse abgeschwächt haben. Doch auch für seine Gastgeberin gab es von Michail Gorbatschow in der Guildhall einen Rüffel. Wenn die Nato - wie von Frau Thatcher angestrengt - die geplante „Modernisierung“ taktischer Atomwaffen durchführe, so drohte der Kreml-Chef unmißverständlich, „wird dies Auswirkungen auf die Wiener Verhandlungen, auf vertrauensbildende Maßnahmen und
die allgemeine Situation in Europa haben“. Frau Thatcher zuckte neben der wieder einmal schickeren Raissa mit keiner Wimper.
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