piwik no script img

Leerstand: Nagels linke Hand reicht nicht

■ Gut 8.000 Wohnungen stehen leer, schätzen die Experten / Die Hauptursache für Leerstand: die „behutsame“ Stadterneuerung

Einen Tag nachdem in Kreuzberg auf einen Schlag sechs Häuser besetzt worden waren, wurde der frischgebackene Bausenator Nagel gefragt, wieviele Häuser in Berlin denn aus spekulativen Gründen leerstünden. Nagel streckte den versammelten Journalisten seine Linke entgegen. An einer Hand könne man sie abzählen. Fast das Zehnfache dürfte wohl zutreffend sein, schätzen die Mieterberatungsgesellschaften der Stadt. Von seinem Büro im 14. Stock aus hat der Senator vielleicht einen guten Ausblick auf den Wohnmoloch Berlin, sich einen Überblick über die Situation nach acht Jahren CDU -Senat zu verschaffen, das ist ungleich schwieriger.

Um eben jenen Überblick bemüht sich seit etwa einer Woche die eilig zusammengetrommelte „Arbeitsgruppe gegen Wohnungsleerstand“ beim Bausenator. Täglich wird ihr neuer Leerstand aus allen zwölf Berliner Bezirken gemeldet, täglich liefert sie ihre Kurzberichte ab. Mieterberater, Stadtteilgruppen, Wohnungsinitiativen arbeiten ihr zu. Jetzt schon ist klar: Mit dem massenhaften Spekulationsleerstand der frühen 80er Jahre, als in West-Berlin rund 1.000 Häuser aus diesem Grunde leerstanden, ist die heutige Situation nicht zu vergleichen. Die Zahl von 20.000 leeren Wohnungen, die unter Besetzerinnen kursiert, dürfte zu hoch gegriffen sein. In der AL-Fraktion existiert eine Liste von Oktober '88. Nach ihr stehen in West-Berlin insgesamt 4.155 Wohnungen leer. Die Dunkelziffer, so schätzen Wohnungsstatistiker, dürfte etwa doppelt so hoch liegen. Die Zahl der Wohnungen, bei denen ein Abriß geplant ist, nimmt sich mit 251 recht bescheiden aus. Komplette Häuser stehen in den seltensten Fällen leer.

Nicht mehr die Spekulation, sondern die behutsame Stadterneuerung bewirkt heute das Gros des Leerstandes in Berlin. Die Ursachen dafür sind unterschiedlich. Zum einen fehlt es für sanierungsbetroffene Mieter an geeigneten Umsetzwohnungen, alleine in Kreuzberg fehlen derzeit rund 1.000 solcher Wohnungen, 400 in Neukölln. Mitunter dauert es deshalb Monate, bis ein Haus vollständig entmietet ist, derweil stehen die übrigen Wohnungen leer. Befristete Zwischennutzung scheitert nicht zuletzt an der mangelnden Zusammenarbeit der Behörden.

Der zweite wichtige Grund ist der Strreit um die Kosten. Bei einigen der kurzfristig besetzten Häuser in Kreuzberg werden sich gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften und die Senatsprüfer seit Monaten nicht einig über die Kostenvergabe. Während der Streit weitergeht, warten die Mieter in ihren Umsetzwohnungen auf den Baubeginn. Erst durch die Ereignisse der letzten Wochen, in Besetzerpanik quasi, beginnen in einigen, teilweise leerstehenden Häusern gemeinnützige Unternehmen mit überstürzter Modernisierungstätigkeit, so zum Beispiel die GSW dieser Tage bei einem Haus in der Oppelner Straße in Kreuzberg. Der Verein SO36 kritisierte anläßlich der Räumungen von sechs besetzten Häusern besonders die BeWoGe. Ihre Sanierungshäuser stehen besonders lange leer. Der Grund: Überbürokratisierung und Schwerfälligkeit des Apparates.

Von solch bürokratischer Schwerfälligkeit sind die privaten Eigentümer allerdings nicht betroffen. Wollen sie ein Haus mit öffentlihen Mitteln modernisieren, fließen die Fördergelder von der senatseigenen Wohnungsbaukreditanstalt (WBK) schnell und unkompliziert. Die Höhe der Fördersummen galt dem alten CDU-Senat als Erfolgsbarometer seiner Sanierungspolitik. Stolz ließ er auf den Sitzungen des Bauausschusses die 100prozentige Auslastung der Fördervolumens verkünden. Was mit dem Geld jedoch in Wirklichkeit geschah, interessierte kaum. Die Kontrollgruppen der WBK sind viel zu klein, ihre Arbeit war in den vergangenen Jahren nicht einmal erwünscht. Wieviele WBK-Millionen in den letzten Jahren auf Privatkonten Zinsen abwarfen oder anderweitige Finanzlöcher stopften, ist unbekannt. Alleine durch den ehemaligen Eigentümer der besetzten Nostizstraße, Schulz, gingen dem Land Berlin bei verschiedenen Fördermaßnahmen rund 1,5 Millonen Mark verloren.

Verfiel anfangs noch die Fördersumme, wenn die Baumaßnahmen nicht innerhalb einer bestimmten Frist begannen, wurde der alte Senat in der Mittelvergabe immer liberaler, die Fristen wurden aus den Verträgen gestrichen. Als eine seiner ersten Amtshandlungen hat der neue Bausenator die WBK angewiesen, „alle kritischen Fälle unverzüglich festzustellen“. Bei der WBK kann das lange dauern. Zukünftig will das Land Berlin sich die Möglichkeit vorbehalten, die Baumaßnahmen selbst durchzuführen, wenn es gar zu lange dauert. Volker Härtig von der AL fordert Weitergehendes. Vertragsstrafen müßten her, eine Revision des Wohnungsaufsichtsgesetzes ist in den Koalitionsverhandlungen bereits vereinbart worden.

Besonders pikant ist der Leerstand dort, wo ohne öffentliche Mittel modernisiert werden soll, mit anschließenden, unbezahlbaren Horrormieten. Oft versuchen die Bezirke, besonders Kreuzberg und Schöneberg, diese Luxusmodernisierungen zu verhindern, oder aber die oft dubiosen Immobilienfirmen geraten bei ihren Finanzspekulationen in Schwierigkeiten. Auch die rücksichtslose Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen und die immer beliebter werdende Zweckentfremdung zu lukrativen Aussiedlerwohnheimen führt dazu, daß preiswerter Wohnraum leersteht. Gutes Beispiel dafür ist die Muskauer Straße 27, die am Mittwoch kurzfristig besetzt wurde.

Der Teufel im Berliner Wohnungsleerstand 1989 steckt im Detail. Wie auch immer der neue Bausenator das Problem angehen wird, Berlin wird weiter mit dem Leerstand leben müssen. Er ist nicht Fehler, sondern konzeptioneller Bestandteil der mehr oder minder behutsamen Stadterneuerung, wie sie seit Jahr und Tag praktiziert wird.

Dirk Ludigs

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen