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Sterbebücher offenbaren Klinikskandal

■ Wiener Polizeipräsident spricht von „größter Tötungswelle in Europa“ / Seit 1983 wurden mindestens 49 Patienten des Wiener Lainz-Krankenhauses getötet / Krankenhausleitung wehrt alle Vorwürfe ab / Gehilfinnen wurden mit ungesetzlichen Aufgaben betraut

Wien (ap/afp/taz) - „Ich kann derzeit überhaupt nichts mehr ausschließen, die Dinge nehmen erschreckende Dimensionen an“, sagte der Wiener Polizeipräsident Bögl gestern, nachdem er begonnen hatte, mit den beschuldigten Stationsgehilfinnen die Sterbebücher des Wiener Lainz-Krankenhauses durchzugehen. Was zunächst nach falsch verstandener Sterbehilfe ausgesehen hatte, wird jetzt von Bögl als „bisher größte Tötungswelle Europas“ gehandelt: Drei Stationsgehilfinnen im Alter zwischen 25 und 30 und eine 50jährige diplomierte Krankenschwester haben nach Stand der Ermittlungen 49 Patienten seit 1983 umgebracht.

Eine der Pflegerinnen hat gestanden, seit 1983 etwa alle drei Monate jeweils einen Patienten, in den vergangenen Monaten jedoch drei pro Monat umgebracht zu haben. In den meisten Fällen wurden die 75- bis 80jährigen erstickt, indem ihnen mit Gewalt Wasser in die Lunge gepreßt wurde. Diese Todesart hinterläßt, so ein Sprecher der Klinik, bei einer Obduktion die Symptome eines natürlichen Todes.

Die Beschuldigten beharren darauf, lediglich Sterbehilfe geleistet zu haben, erklärten aber, daß Überlastung am Arbeitsplatz zu ihrer Tat beigetragen habe. Nach Angaben der 'Kronenzeitung‘ seien die Schwestern gegen Patienten vorgegangen, die sie während der Nachtschicht durch Läuten störten oder sie wegen Kleinigkeiten bemühten. Der Vorstand der betreffenden Abteilung der Klinik, Franz Pesendorfer, bestätigte die Personalknappheit. Ein Arzt gab an, daß der Spitalsbetrieb nicht mehr aufrecht zu erhalten gewesen wäre, ohne erfahrene Stationsgehilfinnen die gleiche Tätigkeit wie diplomierten Krankenschwestern ausüben zu lassen.

Gesundheitsstadtrat Alois Stacher gab zu, daß Stationsgehilfinnen „in Einzelfällen“ im Auftrag von Ärzten oder Schwestern Spritzen und Medikamente verabreicht hätten, obwohl dies gesetzlich verboten ist. Nach den Berichten gäbe es zahlreiche Patienten, die aus Angst Medikamente nicht mehr einnehmen würden. Bei der Polizei gingen gestern Anrufe ein, die von Mißhandlungen von Patienten sprachen. Der Leiter des Krankenhauses wehrte sich gegen den Vorwurf der Krankenhausaufsicht, die Ärzte hätten ihre Aufsichtspflicht verletzt: „Es ist keine Kontrolle vorstellbar, die nicht gleichzeitig den gesamten Spitalbetrieb lahmlegt.“ Zur Zeit wird noch nach einer fünften Schwester gesucht, die sich in Urlaub befindet. Die Behörden gehen jedoch davon aus, daß die Frau von ihren Kolleginnen nur aus Rache beschuldigt worden sei: Sie hatte bereits im vergangenen Jahr einen ersten Hinweis auf die Morde im Krankenhaus gegeben. Damals hatte eine Obduktion keine Beweise gebracht.

smo

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