: Entfesselter Euro-Kapitalismus
■ Kriterien für eine Bewertung der EG-Integration / Zweifelhafte Arbeitsplatzeffekte und Nivellierung auf niedrigem Niveau
Teil 12: Rudolf Hickel
Mit der nach schweren Geburtswehen im Februar 1986 endgültig durchgesetzten „Einheitlichen Europäischen Akte“ ist für die zwölf Mitgliedsländer eine neue Zeitrechnung vereinbart worden. Bis zum 31.12. 1992 soll das Euro-Großprojekt „Vollendung des Binnenmarktes“, das bereits die Römischen EWG-Verträge von 1957 festhielten, durchgesetzt sein. Es besteht kein Zweifel, daß dieses ehrgeizige Unternehmen zur Schaffung eines „Raumes ohne Grenzen“ weit über diese Datumsvorgabe hinaus noch viele Jahre in Anspruch nehmen wird. Denn die Realisierungsprobleme sind offensichtlich, die Widerstände in den einzelnen Mitgliedsländern absehbar. So dient denn dieses vergleichsweise knappe Zeitprogramm auch eher dem Zweck, der mühseligen, kompromißlerischen EG -Integration einen neuen Impuls zu geben.
Es gibt kaum noch bundesrepublikanische Entscheidungen, die nicht unter dem Druck der Schaffung des freien Wirtschaftsraums des EG-Europas bearbeitet werden. Die EG entwickelt sich gegenüber den bisherigen drei Ebenen der föderalen Bundesrepublik (Kommunen, Länder, Bund) zu einer entwicklungsbestimmenden vierten Ebene. Unternehmen, ArbeitnehmerInnen, VerbraucherInnen sowie die dazu gehörenden Interessensverbände - so hat es Helmut Kohl auf dem jüngsten Binnenmarkt-Kongreß der CDU in Bonn formuliert
-sollen auch für Europa „fit“ machen. Ganz ähnlich sieht es in den anderen elf Ländern aus.
Um dieses Euro-Goßprojekt wenigstens ansatzweise bewerten zu können, müssen drei Fragen beantwortet werden: Was ist der Inhalt dieser „Vollendung des Binnenmarktes“? Welche Interessen stehen dahinter? Und damit eng verbunden steht die Frage an, wer sind die Nutznießer, wer die Verlierer dieses barrierefreien Wirtschaftsraumes?
Die ökonomische Bewegungsfreiheit in den EG -Mitgliedsländern war bisher durch unterschiedlichste Barrieren behindert. Nach der Abschaffung der Zölle innerhalb der EG im Jahre 1968 sollen deshalb künftig vier „Freiheiten“ gewährleistet werden: Freier Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die Freizügigkeit der Erwerbstätigen. Im Klartext heißt das: Der Verkauf einer Maschine, die in Frankreich produziert wird, soll künftig auch in der Bundesrepublik ohne Hindernisse möglich sein. Oder aber: Die Kraftfahrzeugversicherung eines Bundesdeutschen könnte auch in England abgeschlossen werden. Oder: Ein Absolvent der Universität Bremen soll in Irland arbeiten können. Diese vier Freiheiten auf der Fahne der EG klingen eigentlich ermutigend. Freilich, die Folgeprobleme dieser Binnenmarktstrategie werden erst deutlich, wenn deren genauer Weg beschrieben wird.
Hier gibt es prinzipiell zwei Optionen. Option1: Die Normen und Regelungen gegenüber der Produktionsweise, den Produkten und dem Verbrauch werden auf hohem Niveau rechtsverbindlich für die EG-Mitgliedsstaaten festgelegt. Dazu zwei Beispiele: Nur diejenigen Maschinen dürfen frei gehandelt werden, die höchsten sicherheitstechnischen und ökologischen Anforderungen entsprechen. Weiterhin: Für die Beschäftigten werden Schutzrechte, die in allen EG-Ländern einzuhalten sind, festgelegt.
Die aktuelle Binnenmarktpolitik geht hier jedoch einen anderen Weg. Option2: Im Bereich der Anforderungen an die Sicherheit, die Gesundheit, die Hygiene und Ökologie werden Mindestnormen - auf viel zu niedrigem Niveau - einheitlich definiert. Ansonsten gilt die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedsländer. Produkte, die beispielsweise nach den Rechtsregeln in einem Herstellerland zustande kommen, dürfen auch in andere Mitgliedsländer verkauft werden, auch wenn diese Länder höhere Sicherheitsanforderungen stellen. Wiederum ein Beispiel: Holzverarbeitungsmaschinen, die in der Bundesrepublik unter geringeren Arbeitsschutzbedingungen produziert werden, können künftig auch in Frankreich - mit wesentlich höheren Anforderungen an die Arbeitsicherheit für die dortige Herstellung - geliefert werden.
Mit diesem Integrationsprinzip der Konkurrenz der unterschiedlichen Normensysteme ist bereits das Reinheitsgebot für Bier in der BRD oder Spaghetti in Italien zu Fall gebracht worden. Die Folgen dieses Weges der Integration liegen auf der Hand: Im Konkurrenzkampf werden sich die billigsten, das heißt die schlechtesten Produktionsbedingungen mit Blick auf Arbeitssicherheit, Schutz der Beschäftigen, Gesundheit und Umwelt durchsetzen. Der EG-Binnenmarkt läuft damit Gefahr, sich als ein gigantisches „Deregulierungsprogramm“ zu entpuppen. Soziales und ökologisches „Dumping“ wären die Folgen, denn bisher durchgesetzte hohe Standards eines Mitgliedslandes können durch die Konkurrenz anderer Mitgliedsstaaten unterlaufen werden. Gegenüber dieser Option2 gilt es im Integrationsprozeß politisch die Weichen neu zu stellen. Nicht die Konkurrenz unterschiedlicher Produktionsbedingugnen, bei der sich am Ende die minderwertigsten durchsetzen, sondern die Definition EG -einheitlicher hochwertiger Standards für das Produzieren, die Beschäftigten, die Produkte und den Verbraucher machen dieses Integrationsprojekt erst lohnend.
Diesen alternativen Integrationspfad einzuschlagen, verlangt vor allem die Auseinandersetzung mit den unternehmerischen Interessen. Denn die Unternehmerabsichten bei der Schaffung des „freien Wirtschaftsraumes“ in der EG gelten der Gewinnung eines größeren ökonomischen Bewegungsspielraums. Schon seit Jahren ist eine Konzentration der Unternehmen zu europäischen Großkonzernen zu beobachten. Der Binnenmarktstrategie kommt in diesem Zusammenhang einerseits eher die Aufgabe zu, diese Chancen der Konzentration zu verbessern. Andererseits sollen die sozialen, arbeitsrechtlichen und ökologischen Regulierungen, die Unternehmen immer schon als Hindernis empfunden haben, abgebaut werden. Die Dimension sozial-ökologischer Gestaltung des EG-Wirtschaftsraums droht sich zu verflüchtigen, wenn die Herstellung dieser vier Freiheiten letztlich der Entfesselung „freier Marktkräfte“, das heißt unter realen Bedingungen den Großunternehmen, überlassen bleibt.
Damit schiebt sich die Frage nach den Gewinnen und den Gewinnern bzw. den Verlusten und den Verlierern in das Zentrum der Auseinandersetzung. Davon hängt entscheidend Zustimmung oder Ablehnung des EG-Binnenmarktes ab.
Zur Beantwortung bietet die Wirtschaftswissenschaft eine Studie an, die durch die EG-Kommission vergeben wurde. Unter der Leitung von Paolo Ceccini sind die Untersuchungsergebnisse in insgesamt 16 Bänden zusammengefaßt worden. Untersuchungsanleitend war die Frage nach den „Kosten der Nichtverwirklichung der EG“. Wiederum ein Beispiel: Wenn etwa ein Unternehmen nicht mehr wie bisher für jedes europäische Mitgliedsland je nach Vorschriften ein unterschiedliches Produkt anbieten muß, sondern nach den Normen des Herstellerlandes liefern kann, fallen die bisherigen Lager- bzw. Produktionskosten der Nichtintegration weg. Circa 11.000 Unternehmen wurden nach derartigen Kosten infolge von Handelshemmnissen befragt. 2.140 davon in der Bundesrepublik.
Damit war schon eine wichtige Weichenstellung der ökonomischen Rechtfertigung des Binnenmarktkonzepts vorgenommen: Beschäftigte, ihre Organisation oder Verbraucher wurden nicht befragt. Dabei ist doch klar: Eine Arbeitschutzbestimmung gilt den Unternehmen als Kostenbelastung, den ArbeiterInnen jedoch als notwengide Bedigung. Die Kosten der Nichtverwirklichung der EG und damit die ökonomischen Vorteile der Integration sind aus der Sicht der Unternehmen definiert.
Der Rest der Ceccini-Rechnung folgt dem naiven Glauben an die Expansionsdynamik entfesselten Kapitalismus: Kostensenkungen durch die unternehmerische Bewegungsfreiheit in der EG werden in Preissenkungen weitergegeben. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigt und in ihrem Gefolge kommt es zu weiteren Kostensenkungen. Druck in Richtung auf mehr Konkurrenz löst einen „Angebotsschock“ bei den Unternehmen aus, an dessen Ende weitere Wachstumsgewinne stehen (oder der Zusammenbruch des Marktes z.B. wg. Übersättigung. d.S.). Über eine sechsjährige Anpassungsphase zaubert dieser deregulierte Eurokapitalismus aus der Sicht des Caccini-Berichts nur „Wohlstandsvermehrung“: Das Sozialprodukt steigt um circa 450 Milliarden DM, die Verbraucherpreise sinken um 6,1 Prozent, aber auch 1,8 Millionen Arbeitsplätze werden neu geschaffen.
Wenn dann noch die infolge des zusätzlichen Wachstums anfallenden Staatseinnahmen für Steuersenkungen und öffentliche Ausgaben genutzt werden, dann steigen die Arbeitsplatzgewinne auf maximal 5,7 Millionen. Wichtig ist also, daß die Beschäftigungseffekte einer öffentlichen Nachfragepolitik vom Ceccini-Bericht gesehen werden. Jedoch, erst muß dieser Angebotszauber seine Wachstumskräfte hervorbringen, um öffentliche Flankierungen finanzieren zu können. Diese „Wohlstandsrechnung“ steht auf tönernen Füßen. Der Ceccini-Bericht, der in seiner Kurzfassung nicht einmal mehr die wenigen, aber wichtigsten kritischen Hinweise der 16 Bände enthält, entpuppt sich als Propagandabroschüre:
-Unterstellt wird, daß die Unternehmen die Kostensenkungen durch die Herstellung des Wirtschaftsraums ohne Grenzen voll in Preissenkungen weitergeben. Warum sollten sie dann am Binnenmarkt interessiert sein, wenn für sie überhaupt keine Integrationsgewinne erwartet werden? Unter Bedingungen der realen monopolistischen Konkurrenz werden die Kostensenkungen, so sie denn anfallen, auch zur Gewinnausweitung genutzt. Nicht die Marktidylle, die durch die „unsichtbare Hand“ gesichert wird, sondern das Shakehand der Unternehmensgiganten dominiert. Im Ceccini-Bericht wird ja selbst immer wieder auf Konzentrationsprozesse hingewiesen, ohne die Tatsache bei der ökonomischen Vorteilsrechnung zu nutzen. Unternehmerische Gewinnverwendung, die dieser Bericht ausblendet, entscheidet über die Art der Binnenmarktentwicklung.
-Ökologische Folgekosten werden im Rahmen dieser Spekulation auf wirtschaftliche Wachstumsimpulse völlig verdrängt. Es muß schlichtweg als Skandal bezeichnet werden, daß die ökologische Wachstumskritik und die damit verbundenen Strategievorschläge völlig verdrängt werden. Dazu ein Beispiel: Der Ceccini-Bericht setzt auf die Ausweitung des Güterstraßenverkehrs in Folge von Frachtratensenkungen durch die Liberalisierung. Damit verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen, und die Umweltbelastung weitet sich aus. Eine Dienstreise zum Bundesumweltamt hätte da befruchtend gewirkt. Die Umwelt ist der große Verlierer dieser Wachstumstrategie.
-Selbst die vergleichsweise niedrigen Arbeitsplatzeffekte dieses Integrationsprojekts sind zweifelhaft. Rationalisierung einerseits sowie andererseits der Konzentrationsprozeß, der auch zu Betriebsstillegungen führt, bewirken Arbeitsplatzverluste. das Arbeitsplatzargument kann das „Ja“ zum Binnenmarkt nicht rechtfertigen.
-Die regionalen Auswirkungen der Binnenmarktstategie werden nicht untersucht. Hier ist zu erwarten, daß die ohnehin starken Wirtschaftsräume profitieren, und somit das regionale Gefälle verstärkt wird. Ernsthaft geht doch niemand davon aus, daß durch die Liberalisierung der Finanzdienste etwa Athen zum relevanten Finanzplatz wird. Die Gewinne konzentrieren sich eher auf die bisherigen großen Finanzplätze in Europa, etwa Frankfurt oder London. Eine differenzierte Untersuchung des Empirica-Instituts für die Bundesrepublik bestärkt diese Befürchtung.
Schließlich führt der eingeschlagene Integrationsweg zu einer Vereinheitlichung des sozialen, ökologischen und verbraucherpolitischen Schutzes auf niedrigem Durchschnittssniveau. Diese absehbare Entwicklung hat jedoch in die Integratiunsdebatte Belebung gebracht. Auch in der EG -Kommission wird mittlerweile kritisch gegenüber den Ceccini -Wachstumsillusionen über die Sicherung eines umfassenden Sozialsockels nachgedacht. Die EG als gemeinsamer Wirtschafts- und Lebensraum kann sinnvoll sein, wenn bei Beibehaltung kultureller Unterschiede die arbeits-, sozial und ökologiespezifischen Anforderungen gemeinsam verbindlich auf höchstem Niveau reguliert, die Unternehmenkonzentration verhindert und die Freizügigkeit gefördert werden.
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