„Wie Schlachtvieh zugetrieben“

Im Memminger Abtreibungsprozeß fordert die Staatsanwaltschaft drei Jahre und sechs Monate Haft für den Angeklagten Dr.Theissen / Er habe „missionarisch“ das „Abtreibungsgeschäft“ betrieben  ■  Aus Memmingen Luitgard Koch

Drei Jahre und sechs Monate Haft ohne Bewährung - das forderte in ihrem Plädoyer die Staatsanwaltschaft im Prozeß gegen den Memminger Frauenarzt Dr. Theissen. Dies sei das Mindestmaß für die Vernichtung von werdenden Leben in so großer Anzahl. Außerdem solle Theissen drei Jahre lang Berufsverbot erhalten. Rein rechnerisch, so die Staatsanwaltschaft, gehöre Theissen gar 53 Jahren und zehn Monate hinter Gitter.

Der 50jährige Frauenarzt habe gegen den §218 verstoßen, indem er bewußt in Kauf genommen habe, daß eine Notlage im Sinne des Gesetzes bei seinen abtreibungswilligen Patientinnen nicht gegeben gewesen sei. Theissen habe lediglich auf „den Willen der Frauen abgestellt“ und damit die vom Bundesverfassungsgericht 1975 verworfene Fristenlösung betrieben. Nach einem Urteil des Bayerischen Oberlandesgericht müsse die Notlage, in der sich die Frau befinde, mindestens ebenso schwerwiegend sein wie etwa bei einer vorausgegangenen Vergewaltigung oder der Gefahr, ein behindertes Kind zu bekommen. Wirtschaftliche und familiäre Schwierigkeiten seien nicht ausreichend. Eine Frau müsse sich eben „gewisse Zeit einschränken“. Nur „vorgestellte oder eingebildete Gefahren“ könnten nicht „ins Gewicht fallen“. Diese Anforderungen „müssen so scharf sein, denn es geht um die Frage von Leben und Tod“, betonte Staatsanwalt Kreuzpointner. Zur Überprüfung der Verhältnisse der schwangeren Frau müsse sich der Arzt auch Urkunden wie Verdienstbescheinigung, Arbeits- und Mietverträge vorlegen lassen. Als Kreuzpointner auf die „zahlreichen, fast unübersehbaren finanziellen Hilfen“ für Schwangere verwies, konnten einige Frauen nur laut lachen.

Das Argument der Verteidigung, die Notlage der Frauen und die Gesprächssituation sei nicht nachvollziehbar, bezeichnete Kreuzpointner als „Banalität“. „Auch bei Mordtaten ist die ursprüngliche Situation nicht mehr rekonstruierbar und kann das Opfer nicht mehr vernommen werden“. Noch niemand sei auf die absurde Idee gekommen, „Mörder und Totschläger“ dürften nicht verurteilt werden.

„Daß das Abtreibungsgeschäft eine ständige Erwerbsquelle für den Angeklagten war, zeigt sich aus der Vielzahl der Fälle“, betonte Kreuzpointner. Damit versuchte die Staatsanwaltschaft, den Strafrahmen von bis zu fünf Jahren für „besonders schwere Fälle“ anzudeuten. Theissen habe einen „wohlorganisierten Geschäftsbetrieb“ geführt, bei dem er sich in Einzelfällen die Frauen „wie Schlachtvieh zutreiben“ ließ. Mit lautem Türenknallen verließen daraufhin empörte Frauen den Gerichtssaal. Richter Albert Barner drohte ihnen eine Ordnungsstrafe an.

Da sich Theissen außerdem entschlossen habe, keine Steuern zu zahlen, habe er „billig auf den Markt anbieten“ können. Wegen Steuerhinterziehung hat man den Frauenarzt bereits verurteilt. Zugunsten des Angeklagten führte die Staatsanwaltschaft an, daß Theissen mit „gewissem Hilfswillen den Schwangeren gegenüber gehandelt“ habe. Er habe aus einem „gewissen missionarischen Eifer“ gehandelt und die Selbstbestimmung der Frau, „wenn auch völlig irregeleitet“, in den Vordergrund gerückt. Aus diesem Grund gestanden ihm die beiden jungen Staatsanwälte einen „Bonus für idealistische Straftäter“ zu.

Die Staatsanwälte listeten alle verhandelten 79 Einzelfälle auf, damit das Gericht bei einer Verurteilung eine höhere Gesamtstrafe als die höchste geforderte Einzelstrafe aussprechen kann, die ein Jahr beträgt. Als „krassesten Fall“ einer illegalen Abtreibung schilderte Kreuzpointner die ungewollte Schwangerschaft einer unverheirateten 18jährigen Kellnerin. Die Frau führte als Abbruchsgrund an, sie habe weder eine geregelte Arbeit noch sei vom Vater des Kindes Unterstützung zu erwarten. Außerdem könne sie mit einem Einkommen von rund 900 Mark kein Kind großziehen. Die Frau hätte jedoch soziale Hilfen beantragen und das Kind in Pflege geben können, befand der Staatsanwalt. Er forderte dafür eine Strafe von fünf Monaten.