: Post aus der Moderne: 28. Germinal
Paris, 18ter April 1791 (aus dem Tagebuch eines älteren Pariser Bürgers) - Wind aus Südosten. Es war heute sonnig und warm. Abends Diner mit M. Janvier aus Villeneuve und Mme. Sellier. Großes Ereignis in Paris. Heute wollten der König in seiner Karosse, gemeinsam mit der Königin, seiner Tochter, seiner Schwester, dem Prin
zen, von den
Tuilerien nach
St.Cloud fah
ren, wohin ih
nen ihr Kü
chenstab schon
vorangefahren
war. Es war 11
Uhr des mor
gens. Als sie aus
dem Hof der
Tuilerien her
auskamen,
hielt das Volk
die Kutsche an
und sagte, daß
er nicht passie
ren dürfte. Nachdem der König eine und eine halbe Stunde in der Kutsche gewartet hatte, umstellte ihn die Nationalgarde ebenfalls und ergriff die Seite des Volkes. M.de la Fayette und Bailly, der Bürgermeister, taten ihr Bestes, um den König passieren zu lassen. Vergeblich, das Volk hielt die Pferde am Zügel zurück, und die Soldaten verweigerten den Befehl. Die Herren La Fayette und Bailly wurden wütend. Der König langweilte sich, befahl kehrtzumachen und ging in sein Gemach in den Tuilerien zurück. Der König soll vor Zorn rot gewesen sein und gesagt haben: „Es wäre erstaunlich gewesen, daß ich selbst frei gewesen wäre, nachdem ich der Nation ihre Freiheit gegeben habe.“ Man hat ihn angehalten, weil man überzeugt ist, daß er fliehen wollte, und daß er das Gesetz gebrochen hat, weil er sich von einem Priester die Messe lesen ließ, der nicht den Eid auf die Verfassung abgelegt hat. Das Volk war wütend. Was bedeutet all dies? Die Zukunft wird es uns zeigen, denn jetzt sieht man weder aus noch ein. Wir werden wohl nie in Ruhe und Friede leben können. Das alles wird meine Leiden nur noch stärken und mich ganz niederwerfen. 28.GERMINAL
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