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„Göttinger Kessel“ war rechtswidrig

Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg bescheinigt der Göttinger Polizei illegales Handeln / Folgen für Strafverfahren  ■  Aus Göttingen Reimar Paul

Nun ist es endgültig: Der Polizeieinsatz vom 1.12.1986, bei dem aus ganz Niedersachsen zusammengezogene Hundertschaften das Göttinger Jugendzentrum Innenstadt (Juzi) gestürmt und die mehr als 400 Besucher stundenlang festgehalten hatten, war rechtswidrig. Mit diesem Urteil besätigte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg eine Entscheidung des Braunschweiger Verwaltungsgerichts vom Januar letzten Jahres.

Nach einstimmiger Auffassung der Lüneburger Richter war die Zusammenkunft im Juzi durch das Versammlungsgesetz gedeckt. Nachdem die Polizei in den Morgenstunden des 1.12. mehrere besetzte Häuser geräumt hatte, war spontan zu einer Diskussion über Wohnungsnot und eventuelle Protestaktionen ins Juzi eingeladen worden. Gleich nach Versammlungsbeginn umstellte die Polizei das Jugendzentrum, drang in das Gebäude ein und behandelte sämtliche Anwesende erkennungsdienstlich.

Zur Rechtfertigung des massiven Einsatzes, der unter dem Begriff „Göttinger Kessel“ seinerzeit bundesweit für Schlagzeilen sorgte, hieß es zunächst, die Polizei sei auf der Suche nach einem illegalen Sender. Später wurde die Begründung nachgeschoben, die Veranstaltungsteilnehmer hätten an diesem Abend rechtswidrige Aktionen absprechen wollen.

Es stehe indessen fest, so das Oberverwaltungsgericht, „daß die Polizei nicht abgewartet hat, ob bei der Versammlung überhaupt zu Straftaten aufgerufen oder angereizt wurde“. Ein entsprechender Verdacht hätte im übrigen allenfalls eine Unterbrechung, nicht aber eine Auflösung der Veranstaltung begründet. „Mutmaßungen über den wahrscheinlichen Versammlungsverlauf (...) reichten für die Maßnahmen der Polizei nicht aus.“

Die Lüneburger Richter halten es darüber hinaus für rechtswidrig, die Betroffenen “...in den Räumen des Juzi festzuhalten“ und bemängeln, daß es keine Rechtsgrundlage „zur Identitätsfeststellung sowie zur körperlichen Durchsuchung“ gab.

Vor dem Hintergrund des Urteils des Oberverwaltungsgerichts erscheinen auch mehrere Strafverfahren in einem neuen Licht, die im Zusammenhang mit der Juzi-Razzia wegen vermeintlichen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ angestrengt worden waren. Laut Strafgesetzbuch ist nämlich eine Widerstandshandlung dann nicht strafbar, wenn der fragliche Polizeieinsatz selbst unrechtmäßig zustandekommt. Eine Revision gegen das Urteil ließ das Oberverwaltungsgericht nicht zu.

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